Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Klaus ModickZurück zur Titel & Inhalt von Heft 18,
zur Wandler Startseite
Klaus Modick, geb. 1951, Schriftsteller. Zuletzt erschienen die Romane "Das Licht in den Steinen" (1992), "Der Flügel" (1994) und "Das Kliff" (1995). Im Frühjahr 1997 erscheint der Roman "Der Mann im Mast" (alle bei Schöffling & Co. in Frankfurt/M.). Klaus ModickSchritte vom WegLaudatio auf Hermann KinderIch lag schon im Bett, als der Anruf kam: Hermann Kinder sei der alemannische Literaturpreis zugesprochen worden. Wie schön, dachte ich, da hat endlich mal ein Literaturpreis den Richtigen ... Und ob ich bereit sei, die Laudatio zu halten? Aber gewiß doch, mit Vergnügen! Denn als Freund ist Hermann Kinder mir lieb, und als Schriftsteller ist er wichtig - bekanntlich, und zum Glück für Autor und Leser, nicht nur mir. Ein Leichtes wäre es, sein Lob zu singen, über ihn zu laudieren. Ich kannte sein Werk ja gut, hatte auch bereits schon einige seiner Bücher rühmend rezensiert; da müßte ich doch im Grunde diese Rezensionen nur noch einmal zu einem hübschen, runden Redesträußchen zusammenbinden. Nichts leichter als das. Und daß ich es mir so leicht gemacht hätte, würde vom Publikum, das bei der Preisverleihung anwesend sein würde, niemand merken. Niemand außer Hermann Kinder. Allerdings auch ausgerechnet Hermann Kinder. Hermann Kinder würde vielleicht schmunzeln, würde sein leicht nach innen gekehrtes Lächeln lächeln und denken, wie klug und angenehm von Klaus Modick, daß er sich wegen mir keine große Arbeit gemacht hat. Ach, peinlich wäre das, lieb- und gedankenlos gegenüber diesem Menschen, der mir so lieb und dessen Gedankenfülle mir so teuer ist. Das leicht Gemachte, es dämmerte mir, als meine Überlegungen schon die wogigen Regionen des Halbschlafs streiften, würde sehr schwierig werden. Am nächsten Morgen legte ich mir auf den Schreibtisch, was ich von und über Hermann Kinder im Regal hatte - ein imponierender Stapel. Bekanntlich macht die Masse noch kein großes Werk, aber wenn einer in 19 Jahren 19 größere und kleinere Bücher publiziert oder ediert hat, dann darf man wohl von Fruchtbarkeit und Beharrlichkeit sprechen; von Beharrlichkeit um so mehr, als manchen dieser Bücher durch teils dreiste, teils hämische, zumeist schlicht dumme Literaturkritik die Entfaltung schwer gemacht worden ist. Diese Bücher liefern ja auch in der Tat keine stromlinienförmige, marktkonforme Unterhaltungsware, die den Geschmack des Massenpublikums treffen könnte; hatte ich das nicht selbst einmal in einer Rezension geschrieben? Ich blätterte in meinen Papieren, und siehe da: Hermann Kinders Ins Auge, hatte ich seinerzeit dies Opus Magnum zusammengefaßt, sei ein sperriges, schwieriges Werk. Mein Gott, wie dämlich von mir! Wie konnte ich nur ein Buch, dessen Verbreitung mir am Herzen lag, derart abschreckend charakterisieren? Noch dämlicher freilich der Haffmans-Verlag, der ausgerechnet diesen Satz als Werbung in die Klappentexte von Hermann Kinders folgenden Büchern einfügte. Immerhin hatte ich damals noch angefügt, das Buch sei auch komisch, stellenweise witzig; die Wand zwischen Gelächter und Grauen sei hier freilich extrem dünn, durchlässig wie in allen Werken Hermann Kinders, in denen immer wieder Wahnsysteme zu Komik und Komik zum Wahnsystem gewandelt werden. Weiterhin hatte ich geschrieben, daß sich an den inhaltlichen und stilistischen Brüchen und Widersprüchen, die den Roman Ins Auge ausmachten, Leistungsfähigkeit und Problematik unserer zeitgenössischen Literatur exemplarisch ablesen ließen. Insofern sei der Roman auch eine Zumutung an den Leser, eine der produktivsten Zumutungen allerdings, die sich denken und lesen ließe. Wer gemütliche Zerstreuungslieratur suche, der sei gewarnt. Wer aber den Mut habe, seinen Gesichtskreis irritieren und beträchtlich erweitern zu lassen, der werde nach der Lektüre vieles klarer sehen. So weit, so gut, beziehungsweise immerhin so richtig. Ganz falsch war das ja nicht gewesen, aber recht rezensionshüftsteif und hölzern - und jedenfalls für die Laudatio völlig unbrauchbar; nicht zuletzt deshalb, weil Komik und Witz Kinders hier gar nicht beschrieben, sondern nur behauptet waren. Ich hatte allerdings, wie ich mich dunkel erinnerte, das literarische Funktionieren von Kinders grimmiger Komik an anderer Stelle zu beschreiben versucht, indem ich es mit einer Szene aus einem Charlie-Chaplin-Film verglichen hatte, in der Chaplin als Rollschuhfahrer zwischen Sturz und Genie, Taumel und Anmut, aufs Schönste jongliert. Der komponierte Gestus des Grotesken, hatte ich herumdefiniert, funktioniere das Straucheln der Anmut um zu einer neuen, überraschenden Bewegung, fange den Sturz der Harmonie ab, indem er den Sog des Fallens zum Tanzen bringe. Hinter bizarren Chimären und verzerrten Masken der tollsten Originale, die Hermann Kinder in seinen Büchern zu einer Art hysterischem letzten Walzer auf dem Parkett einer depressiven Wirklichkeit zusammentreibe, konstituierten sich die grotesken Situationen aus der plötzlichen Konjunktion unfreiwilliger Komik mit der Tragik der Handelnden. Diese Komik sei zugleich der bittere Ernst jener großen Groteske, die Leben heißt, sei Leiden unter der Oberfläche eines Gelächters, das ins Brüllen gerate, umschlüge in den Schrei des von allen Sinngebungen und Gewißheiten isolierten Individuums. Und insofern halte Kinder mit gutem Recht seine Prosa zwar für amüsant, aber gar nicht so lustig. Wenig amüsant und überhaupt nicht lustig war freilich auch dieser Deutungsversuch, der gewiß etwas Richtiges sagte, aber immer noch nicht, nicht einmal annähernd, dem unverwechselbaren Stil Hermann Kinders gerecht wurde. Und hatte im Übrigen Kinder in seinen Wiener Vorlesungen zur Literatur Über das Autobiographische. Über das Authentische seine Absichten, Methoden und Mittel nicht bereits derart präzise und uneitel formuliert, daß ich ihn eigentlich nur noch zitieren konnte? Prosaschreiben bedeute ihm, hieß es da sinngemäß, den Ausdruck seiner selbst zu erproben, wobei ihm die Komposition der Stoffe stets recht splitterhaft gerate. Seine Themen seien der Konflikt von Innen und Außen, von Subjekt und Gesellschaft und Geschichte, die sich als Konflikte der dargestellten Individuen mit schwankenden Identitäten zeigten. Deshalb überlagerten bei ihm das Erzählen des Wahrnehmens, des Imaginierens, der Schnittstellen von innen und außen oft die faktischen Handlungen, die Fabeln und Plots - und eben das mache seine Texte widerständig gegen jedes eilige Übereinstimmungslesen. Jawohl, alles das würde ich zitieren, und ganz nebenbei würde ich noch nachweisen, daß Hermann Kinder irrte, als er schrieb, daß ihm keine literarische Sprache für Empfindungen wie Glück, ruhige Hoffnung und unhastiges Einvernehmen mit dem Leben zur Verfügung stehe, sondern nur Kritik, Klage und vagierende Sehnsucht. Dagegen würde ich nämlich all die, wie man so sagt: schönen Stellen aus seinen Werken aufbieten, in denen eben Glück, Hoffnung und Einvernehmen zur Sprache kommen, die Bootsfahrt aus Der Schleiftrog etwa oder die beschwingte, sukzessive in einen Rausch übergehende Fahrradtour aus Kina Kina, überhaupt all diese Fahrradtouren in seinen Büchern, deren entspannte Bewegtheit ein Leitmotiv seines Schaffens sind. Das, was man einmal mit einem gar nicht unzutreffenden Wort, als Kinders "Hochgeschwindigkeitsprosa" bezeichnet hat, das, was Kinder selbst als Erprobung von Satzvarianten bezeichnet, die seine Texte bremsenlos machen, scharf, schlank und berauschend mit Tempi, Rhythmen und Klängen, um dann am Ende dem Rausch der Abfahrt zu gleichen, für den das Strampeln am Berg die Voraussetzung ist - alles das liegt in diesen Radtouren chiffriert; und vielleicht noch ein anderes, nämlich Kinders Doeppelexistenz als Schriftsteller und Germanist: Er tritt auf beiden Seiten abwechselnd in die Pedale, was oft ein mühsames Auf und Ab ist. Und er bewegt sich doch, und wenn er in Fahrt kommt, wenn der Rausch der Abfahrt winkt ... Nun ja, was dann passiert, das läßt sich lesen, von Buch zu Buch ausgefeilter, schlüssiger, auch radikaler, vom Schleiftrog bis zu Alma. Entschlossen schlug ich also den Essayband Von Gleicher Hand auf, der, nebenbei bemerkt, dem, der sich nicht nur für die Endergebnisse des Kinderschen Schreibens, nicht nur für die Abfahrten, sondern auch für dessen Voraussetzungen, das Strampeln am Berg, interessiert, eins seiner Hauptwerke ist, um sogleich über die in seiner schönen, zierlich-nervösen Handschrift verfaßte, als Widmung getarnte Warntafel auf der Vorsatzseite zu stolpern: "Für Klaus, mit der Bitte, dies Buch ungelesen zu lassen bis aufs Vorwort, von Hermann, 2. April 95". Alter Trick, klar: Keiner tut gern das was er tun soll, was wir lassen sollen finden wir erst toll. Aber immer noch ein sehr guter Trick, der mich damals gleich dazu überredete, das Buch von vorn bis hinten durchzulesen. Der Trick ist, fiel mir ein, als ich zu blättern begann, so gut, daß Hermann Kinder darüber nachdenken sollte, seinem nächsten Buch einen Satz an alle Leser voranzustellen, dies Buch ungelesen zu lassen. Nun ja, schöne Grüße aus Kalau, aber Hermann Kinder würde es mir wohl durchgehen lassen, weil er selbst gelegentlich ganz gern gute Beziehungen zu diesen, zu Unrecht verrufenen, literarischen Landstrichen unterhält. Und nachdem ich nun auf der Suche nach zitierfähigem Material die erste Warntafel souverän ignoriert hatte, stieß ich, gleich im Vorwort, mit dem Kopf gegen die nächste. Hohl klang es gottlob nicht, tat auch nicht weh, stimmte mich aber höchst bedenklich, ob es mit der versprochenen Laudatio überhaupt etwas werden würde, fielen mir doch folgende Sätze ins Auge: "Ein, wenn nicht das (nicht nur in der Lyrik) Wichtigste der Texte liegt in ihrem, wahrscheinlich vergeblichen, Bestreben nach Ausdruck von etwas Vor-Semantischem, Vor-Sinnhaftem, Energetischem. Texte wollen sich singen. Sie sind auch Musik. Darin bleiben sie gegenüber aller auf Sinn bezogenen Interpretation Rätsel." Ende des Zitats. Und ich auch am Ende, ich mit all meinen albernen Suchen nach Sinn in Kinders Texten, mit meinen lachhaften Interpretationen seiner kalkulierten Sinnlichkeit und seiner makaberen Komik. Texte sind auch Musik, sie wollen sich singen. So einfach war das. Schien das. Schon klar, wie und was gemeint war - ich mußte ja nur an Kina Kina denken, wenn dort am Ende aus all der Wirrnis des chinesisch Fremden diese wie lässig hingepfiffenen Melodien aufsteigen; oder mußte nur an Alma denken, wenn dort umgekehrt aus einer bekannten Melodie, die eine Art Kriminaltango zu trällern scheint, schließlich eine sich immer weiter ausdifferenzierende Solostimme hörbar wird, die in all ihren Facetten zu einem ganz unerhörten Chor vagierender Wahrnehmung ausgefaltet wird, mußte an die präzise, schnelle Sprache denken, deren Tempo durch den Rhythmus der langen Satzperioden konterkariert und rückgedehnt wird und die in ihren minimalistisch exakt akzentuierten Variationen und Verschiebungen manchmal tatsächlich wie ein Stück von, sagen wir mal: Philip Glass klingen kann; mußte auch an Hermann Kinders neues Manuskript denken, das im nächsten Jahr das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird und das bereits zu kennen ich das ungetrübte Vergnügen habe, weil dies Buch nämlich in seiner musikalischen Struktur einer Art schrillem, zugleich harmonisch schmelzendem Requiem ähnelt - aber mehr wird an dieser Stelle natürlich noch nicht verraten. Ja, es ist wahr. Hermann Kinders Texte wollen sich auch singen, und sie singen tatsächlich, mal schrill, mal elegisch, mal, sehr wohl und wider die Meinung ihres Urhebers, beschwingt, und manchmal alles in einem. Aber, keine Angst - ich würde während der Laudatio nicht den Versuch machen, vorzusingen, nicht einmal etwas aus den grimmschmissig-sarkastischen Couplets der Geschichten von Liebe und Tod, nicht einmal aus den schönen, mir persönlich sehr nahen Gedichten Winter am Meer, die Hermann Kinder ganz nebenbei geschrieben hat. Und plötzlich fragte ich mich, wie eigentlich Ins Auge sänge, sänge es denn? Aber bei diesem Gedanken klappte ich Von Gleicher Hand lieber ganz schnell wieder zu. Und saß nun, schlau wie zuvor, nur hilfloser noch, vor dem Bücherstapel. Laudiert worden war Hermann Kinder unlängst schon einmal, und zwar in Form der kleinen Festschrift Dreißig auf Fünfzig zu seinem 50. Geburtstag. Vielleicht konnte ich dort ein paar hübsche Sentenzen entwenden? Allerlei Lyrik war da versammelt, fragwürdiges Gereime wie "Sich nah zu sein und freundlich und man sollte/mehr schreiben was man nicht beschreiben wollte", aber auch tiefsinnig Schönes wie "Jahre sind Steine,/ die Metze sind wir,/machen Beine den Jahren,/daß sie hetzen wie wir." Und außerdem, schau an, schau an, auch ein Beitrag desjenigen, der mich gestern Nacht dazu angestiftet hatte, die Laudatio zu halten. Mal sehen, wie der sich aus der Affäre gezogen hatte! "Über ihn zu laudieren ist unrettbar lächerlich", hatte der doch glatt geschrieben. Immerhin, das war nicht nur glänzend formuliert, sondern kam mir auch irgendwie bekannt vor, was vermutlich daran lag, daß jene Sätze, die uns unmittelbar einleuchten, uns immer schon bekannt waren - nur daß sie in uns nie zu Wort gekommen sind. Immerhin, dachte ich, wäre dieser Satz, auch wenn er nicht von mir stammte, ein schöner Anfang für die Laudatio, und also notierte ich mir: Über ihn zu laudieren ist un... als das Telefon klingelte. Dran war der Kollege Lukas Domcik, ein, man muß es leider so drastisch formulieren, gescheiterter Romancier, der sich unter den windigsten Vorwänden immer mal wieder dadurch wichtig zu machen versucht, daß er von allerlei Großprojekten schwadroniert, was er auch diesmal ausgiebig tat, bis es mir zu bunt wurde und ich sagte, ich müsse jetzt aber wieder an die Arbeit. Was denn für Arbeit? heischte er Auskunft, und ich machte den Fehler zu erwähnen, ich schriebe gerade an einer Laudatio auf Hermann Kinder. Das heiße, ich versuche, sie zu schreiben. Das sei nämlich gar nicht so ... Laudatio? Hermann Kinder? trötete aber Domcik da. Ob der etwa schon wieder 'n Preis kriege? Nicht schon wieder, sondern endlich mal, korrigierte ich, woraufhin Domcik: Na ja, Klasse der Mann jedenfalls. Spitzenprosa. Er, Domcik, habe "seinerzeit" mal viel von dem gelesen. Dies dicke Buch mit den ganzen schweinischen Stellen drin, na, ich wisse ja schon, he he he. Saumäßig gut sei das. Und was denn überhaupt für'n Preis? ... Alemannisch? Er, Domcik, denke, der Kinder schreibe hochdeutsch? Und gebürtig sei der auch gar nicht von da unten, der stamme doch "streng genommen" aus ... Schon, ja, versuchte ich, zu Wort zu kommen, doch Domcik setzte nach, die Landschaft spiele in Kinders Büchern doch auch kaum 'ne Rolle, jedenfalls nicht in dem Saubuch ... Ob Domcik, unterbrach ich, nun doch unwillig werdend, dessen Suada, damit etwa sagen wolle, Hermann Kinder habe den Preis nicht verdient? Woraufhin er nun wieder: Im Gegenteil. Saumäßig gut. Sage er doch. Nein, er meine nur, wenn ich da jetzt demnächst eh mit der Jury Kontakt haben würde, dann solle ich ihn, Domcik, doch gleich mal als nächsten Preisträger vorschlagen. Ich staunte ob dieser dreisten Direktheit. Dich? Als Preisträ ... Genau. Er habe nämlich mal in einem seiner Bücher den Bodensee vorkommen lassen und in dem Zusammenhang gleich noch ein paar Zeilen beim Kinder geklaut. Und der Kinder könne sich dafür ja insofern revanchieren, als er dann im nächsten Jahr die Laudatio auf ihn, Domcik, halten dürfe. Und falls mir für die Laudatio nichts einfalle, sei er notfalls bereit, "den Job" zu übernehmen. Man wisse ja, daß so eine Laudatio "normalerweise" besser honoriert werde als der Preis überhaupt dotiert sei, und insofern ... Der unselige Mensch dröhnte noch ein paar Minuten in seinem leider nicht sonderlich hellen Wahn vor sich hin; schließlich saß ich wie benommen wieder vor dem Bücherstapel und starrte meine Notizen an, meine Notiz, mein Notizfragment: Über ihn zu laudieren ist un ... Nein, so ging das nicht. Ich mußte die Laufrichtung ändern und unternahm erst einmal einen Spaziergang um den See, der eigentlich nur ein Teich ist und, verglichen mit dem Bodensee, eine Pfütze. Gern hätte ich jetzt Hermann Kinder neben mir gehabt, so neben mir, wenn ich ihn in Konstanz besuche und wir dann zu ausgedehnten Gängen aufbrechen, vorbei an der Burg der Droste, vorbei an Fritz Mauthners schweigendem Haus, durch winklige Gassen und über steile Treppen, bis die Landschaft sich plötzlich öffnet, Weinberge, Wiesenhänge, und unter uns See und Strom, meist in etwas zweideutiger Dunstigkeit verschwimmend. Wir sprechen im gleichen Schritt über nichts Bestimmtes, sondern fast immer über Literatur, deren Schönheit und Freiheit ja gerade in ihrer Unbestimmbarkeit liegt. Wenn er weniger stoff- und meinungsdienend imaginiere, sagte Hermann Kinder einmal zu mir, als wir einen langgezogenen Hang abwärts gingen, wenn Passagen zu gelingen scheinen, in denen er sich, wenn er sie wiederlese, um anzuknüpfen und weiterzukommen, nahezu besinnungslos verströmen könne, von denen er genau wisse, wie sie weitergehen müßten, dann habe er das sichere Gefühl, seinen Ton getroffen zu haben, diesen Ton fast absichtslosen Erzählens, das Beschreiben dessen, was man eigentlich gar nicht beschreiben wollte, diese Schritte, weg vom vorgezeichneten Weg, ins Freie, Ungeebnete, Unbekannte, das vertraut wird, weil man es entdeckt, ohne etwas entdecken zu wollen. Und als er das sagte und wie er das sagte, war das alles völlig konkret, kein abstraktes Programm. Es war, wie in seinen Texten, sinnlich da, war anwesend. Ich sah ja den Weg vor mir, dem wir folgten, ich sah den Wegesrand, und ich wußte, wenn wir jetzt querfeldein marschieren würden, kämen wir auch an ein Ziel, nein, wären sogleich am Ziel, mit dem ersten Schritt, mit dem zweiten, dem dritten und immer so fort. Und ich verstand auch, wieso das, was Hermann Kinders unverwechselbarer Stil ist, sich auch aus der Landschaft speist, durch die er seine Radtouren macht oder durch die er geht, mit Freunden oder allein, Schritt für Schritt, Buch für Buch, vom Schleiftrog bis Alma und bald noch weiter ins Offene. Zu Hause räumte ich den Bücherstapel wieder ins Regal,
warf einen Blick in Fremd Daheim, die schönen Bodenseestücke.
Darin gibt es einen Text über Martin Walser, und in diesem
Text heißt es: "Über ihn zu laudieren ist unrettbar
lächerlich." Na bitte, ich wußte doch, daß
mir der Satz bekannt gewesen war. Ich brauchte den Satz aber nicht
mehr, weil ich jetzt wußte, was ich sagen würde. Zur
Jury gewandt würde ich sagen: Ich beglückwünsche
Sie zu Ihrer Entscheidung. Und zu Hermann Kinder gewandt würde
ich sagen: Von den Bücherstapeln in meinem Zimmer ist der
Deine mir einer der liebsten. Ich hoffe, er wird wachsen. .. Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18Zurück zum Anfang der Seite, zur Titel & Inhalt von Heft 18, zur Wandler Startseite |