Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: karin kinast

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karin kinast

tractatus morbidus

über die freude am leben und sterben

worüber man nicht schreiben kann darüber soll man nicht schreiben eine geöffnete dose thunfisch die schalen einer zwiebel einer knoblauchzehe eine küchenreibe mit gelblichen käseresten ein nudelverklebtes sieb bekleckerte teller öl und tomatenspritzer bekleckerter herd nach spaghetti atun ist mein bauch voll und mein kopf leer ich rechne die stunden aus die ich in meinem leben schon gelebt habe wieviele stunden ich noch leben werde läßt sich schwer ausrechnen sollte ich dieses jahr überleben werde ich noch gut zweitausend stunden vor dem bildschirm verbringen dies sind herrliche aussichten angesichts der tatsache daß sich manchereins nur einen job wie diesen wünschen würde da er selbst ja keinen hat geschweige denn täglich spaghetti um mitternacht vor dem zu bett gehen welch glück letzte woche habe ich meine großmutter gesehen ich konnte sie lange nicht sehen denn ich saß vor dem bildschirm das lezte mal lächelte sie nun werde ich sie nicht mehr wieder sehen einmal habe ich meinen job an den nagel gehängt doch der nagel hielt nicht und fiel ab täglich um acht uhr bimmelt mein wecker nie stehe ich um acht uhr auf in unserem haus leben hunde kinder und ausländer über das bellen der hunde hat sich noch nie jemand beschwert die Leute von der nachbarwohnung habe ich noch nie gesehen höre sie jeden sonntag nörgelt sie und jeden sonntag brüllt er sei still einmal war es wirklich still da machte ich mir sorgen auf der straße drehen sie sich manchmal nach mir um vielleicht deshalb weil mir eine rose aus dem linken ohr wächst ich weiß auch nicht warum das so ist.

Aus: Karin Kinast: Bis zum letzten Zug. Prosa u. Gedichte. Corvinus Presse, Berlin 1995.

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Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18

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