Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Roberta HartungZurück zur Titel & Inhalt von Heft 18,
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Roberta Hartung, Pseudonym Roberta HartungBlicke auf Splitter der ErdeScheiße eine plattgefahrene Kanalratte von Millionen Straßenasphalt plattgefahrene Scheiße Plastiktütenfetzen Rinnstein Scheiße Bordstein kompakte Scheiße (er holte Anlauf für das Vorderrad, drückte helfend die Fersen in den Turnschuhen gegen den Boden) Gehsteigasphalt zerdrückte und mitgeschmierte rötliche Scheiße dunkelbraune Scheiße zwei fast identische kleine Haufen Scheiße ein zerknülltes Papiertaschentuch Durchfallscheiße Gitterrost Baumstamm ein Scheißebrocken direkt am Holz (er lavierte den Motorroller mit der linken Hand um die zwei giftgrünen städtischen Mülleimer herum) orangefarbener Deckel alle Abfälle blauer Deckel Papierabfälle Pilotversuch (er hielt den kleinen, röhrenden Sauger an die Scheiße, saugte sie auf, seine Augen glitten suchend über den Gehsteig zum nächsten Haufen Scheiße). Farben: sein Motorroller giftgrün und weiß, der Auffangbehälter giftgrün und weiß, die Saugröhre weiß (vorne braun verschmiert), sein städtischer Anzug giftgrün, seine Handschuhe weiß, die Schrift auf dem giftgrünen Rücken weiß: Proprété de Paris, unter dem blauen Deckel quollen bunte Isolierdrähte und weiße Plastiktüten hervor. Mehr Farben: seine Augen blaugrün schimmernd, seine Haare lang, glatt und honigblond. Noch mehr Farben: rotbraun, ockerbraun, hellbraun, gelbbraun, dunkelbraun, schwarzbraun, kotbraun. Nur ein Geruch. Scheiße Hin, saug und weg. Scheiße Hin, saug und weg. Scheiße Hin, saug und weg. Scheiße Hin und saug weg weg weg. Er stellte den Roller neben einen im Gitterrost gefangenen städtischen Baum, zog die Handschuhe aus, warf die Haare zurück und streichelte den gebrechlichen, müden Schäferhund des Café-Bistro an der Ecke boulevard Diderot, rue Crozatier. Dann ging er einige Schritte nach links zum Schaufenster des Reisebüros neben einem Blumengeschäft und betrachtete aufmerksam die Plakate mit blauen Meeren, hellen Sonnen, weißem Sand, grünen Palmstränden, braungebrannten glücklichen Menschen. Nach einer Viertelstunde drehte er sich wieder um und ging zurück. An der Theke bestellte er einen Espresso. Er inspizierte sein Portemonnaie, zündete sich eine Zigarette an und ging zum Musikautomaten, warf das Geld ein und drückte nach längerem Überlegen einen Knopf. Nichts geschah. Offenbar war der Automat kaputt. Der Junge zögerte. Der Patron lehnte dick und friedfertig auf seiner Kasse, gerade mal ein Auge geöffnet. Er lachte immer rotgesichtig und trank immer kleine Schnäpse und redete immer mit zwei, drei arbeitslosen amis, wenn man im Vorübergehen durch die spiegelnden Scheiben sah, er war sein bester Klient. Der Hund speichelte auf die Türschwelle. Es war Ende Juli und sehr heiß, die Pariser flohen die Stadt und überließen sie den Touristen, der Junge ging an die Theke zurück. Er trank schweigend seinen Espresso, die tiefschwarze Flüssigkeit, ohne Zucker. Der Hund schleppte sich hechelnd einige Schritte den boulevard Diderot entlang, behielt den Baum vor dem italienischen Restaurant im Visier. Pizza au feu de bois, Holzofenpizza. Verhaßte Konkurrenz mit grünblauen Neonröhren und rosafarbenen Tischdecken einige Schritte weiter. Der Junge ging an ihm vorbei, während er die Hinterbeine abknickte, in giftgrüner Montur auf seinen Motorroller zu, während er sich fast in den jämmerlichen, krankfarbenen Scheißfaden setzte, den er sich aus dem After quälte. "Lust auf einen Blickwechsel?" sagte eine melodiöse Männerstimme in seinem Rücken, gerade als der Zündschlüssel im Loch stak. Der Junge balancierte den Motorroller mit gespreizten Beinen auf den Zehenspitzen, sein moto-caca, im Volksmund auch chiracaca nach dem Vertreter einer saubereren Welt benannt, die Augen auf die drei 1000-Franc-Scheine in der schönen, fremden Hand gerichtet. Durch die Blätter der städtischen Bäume befleckte ihn Sonnenlicht. Zuckte kokett auf seiner verschwitzten Montur. Es roch nach Scheiße. Der Motorroller roch nach Scheiße der Auffangbehälter roch nach Scheiße der Sauger alles wie lauten die Regeln? hinauf zu dem schroff paradiesgleichen Ort aber ohne Esoterik und Wi-Wa-Wanderlust nur pures Atmen und Steine Geröll und trittfeste Schritte Schmetterlinge über Wasserfällen trockene Erde Abstreifen und erschrockene Murmeltierpfiffe und rhythmisches Schweigen und Schweiß in den Augen und Morgenlicht Zwielicht schimmernde Grate eiskalte Seen steigende Hitze schwebender Nebel Himmelsstiegen Einsamkeit Bergadlerschwingen Entgrenzung Sterblichkeit in Unendlichkeit Entleibung entfremdeter Körper um zu Leben Leben Leben bevor man stirbt, nur drei kleine Wünsche gilt's. Der Verführer fuhr gelassen im Schrittempo im Stau, ewiges Autobahngewirr vor Bordeaux, die Filterzigarette im Mundwinkel, von allen Plakaten grüßte Chaban-Delmas, die ewigen Verstrickungen mit dem bordelesischen Fußballverein, die Garonne wälzte sich träge, kackfarben unter der verkehrsüberladenen Hochbrücke, gespickt mit Ladekränen, die zu nichts mehr dienten, das Meer verhieß sich selbst in unmittelbarer Nähe zu Hochsaisonpreisen, der Junge hatte die Scheibe des bordeauxroten Sportwagens heruntergelassen, gab die kleine Nase, den aufgestützten Ellbogen Luft und Abgasen preis, den blonden Honig sorgsam aus dem Gesicht gestrichen, während er unentwegt nach draußen schaute, den Mann an seiner Seite ignorierte, der, wie nach einem verstohlenen Blick festzustellen gewesen war, keinen Bocksfuß trug, sondern zweifelsfrei schwarze hochglanzpolierte Schuhe von Bally. "Und Sie sind also die Märchenfee", sagte er erst beim Aussteigen. Der atemberaubend schöne, selbstsichere Mann lächelte nur und wies freundlich auf die pompöse Fassade des Restaurants am Südstrand von Biarritz, die von allen Farben eines atlantischen Sonnenuntergangs eingerahmt wurde: rot orange gelb purpur blau violett schwarz weiß gülden gülden, überraschungslose Farbnamen, die einen kitschigen Buchstabengeschmack im Mund hinterließen; der Junge lehnte an der Steinmauer und konnte sich nicht sattsehen an den Schlieren und Weben des Horizonts der zwischen Himmel und Wasser aus nichts bestand als seinen acht Buchstaben und bunten kosmischen Pinselstrichen auf geschöpftem Naturbüttenpapier lodernde Flammenmeere tragische Feuersinbrunst blutende Glutflutwellen Lavaströme Brandung Brandung flehendes Recken einer spektralfarbenen Hand Abendtod in Wogen pfauenschillernd stürzendes ertrinkendes Verglühen und Schachern um den letzten Strahl. Der Mann stand neben ihm, betrachtete ihn und rauchte eine Zigarette gegen den Hunger im Bauch. Hinter ihnen waren andere Menschen stehengeblieben, starrten auf das schöne Paar und dachten eine Menge Unrat. "Als ob die Sonne sich getötet hätte", sagte der Junge schließlich müde, als er sich vom dunklen Horizont abwandte. Sie standen allein auf der Terrasse. Zum ersten Mal blickte er dem Mann direkt in die Augen. Später in der Nacht murmelte er, die Wange schlaftrunken gegen die Scheibe gelehnt, unter der die kurvenreiche Straße aufhörte und der Berg steil abfiel in die Schlucht, die sie unter sich ließen: "Mein Horizont besteht aus Hundescheiße. So ist das eben. Verachten Sie mich?" Der Mann warf einen schnellen Seitenblick auf sein abgewandtes Gesicht. Streifte die Asche ab, während es wählerisch um seine fest geschlossenen Lippen zuckte. "Ich bin vierzig", erwiderte er nach einer Weile. "Ich verachte dieses und jenes." Pont d'Espagne, lautete es zwischen drei und vier Uhr morgens in das Erlöschen der Scheinwerfer hinein. Es war tiefschwarz, nichts zu erblicken und zu erkennen, nur Wasser rauschte vor der Stoßstange. Im Halbschlaf half der Junge, Sachen aus dem Kofferraum zu nehmen, tastete sich blind und beladen am Holzgeländer einer Brücke entlang und blieb auf dem weichen Erdboden dicht neben dem Mann. Er hielt fest und ließ los, wenn die angenehm flüsternde Stimme ihn aufforderte, kroch irgendwann in ein Biwak, schlüpfte in einen Schlafsack und sah, daß er am Meer stand, und vernahm Brandungslärm, bevor er einschlief. Er erwachte in einem künstlich schimmernden Ei, entfremdet von Ort und Zeit. Der benutzte karmesinrote Schlafsack zwischen ihm und dem Ausgang war leer. Geräusche die durch das Violett des leichten Zeltes drangen Rauschen Pfeifen Klappern von Geschirr Zurufe Poltern Lachen undefinierbares Rumpeln der Junge tastete nach seiner Uhr. Kaffee? Der Mann hob einen Blechtopf vom hellblauen Gaskocher, der im Sonnenlicht gleißte, und lächelte leicht. Der Junge schaute geradezu erschrocken um sich auf Meeresrauschen in dem glitzernden Wildbach der die weite Lichtung vom noch größeren Parkplatz schied Abendpurpurrot auf den anderen Biwaks Gischt auf den Felsen der zahlreichen Berge die sich in beeindruckende Höhe erhoben und seinen kurzen Atem einkesselten alles gleichzeitig alles stürmisch auf ihn zustürzend über ihn hinfort in ihn hinein seine sämtlichen Sinne hinwegspülend fordernd zerreißend. Es rettete ihn die dampfende bol Instantkaffee von Tschibo, an der sein Blick sich festtrank. Ein Hund schoß kläffend aus einem Biwak, sauste zum Bachufer und zurück, schnüffelte scheinbar sinnlos in ihrer Nähe herum und setzte sich auf die Hinterbeine. Der Junge sah den Hund an, der Mann sah den Jungen an, der Junge blickte von dem scheißenden Hund weg auf die lichtbedeckten Berggipfel, das schmale Gesicht entschlossen gespannt, der Mann sah konzentriert auf den Kaffee im Topf hinunter. "Weshalb fahren wir hier weg?" fragte der Junge, als sie wieder im Auto saßen. "Weil hier bis Mittag die Hölle los ist", sagte der Mann ruhig, "ich dir aber versprochen habe, dir das Paradies zu zeigen." Les lacs d'Ardiden. "Ich kann nicht mehr", bockte der Junge auf halber Höhe des steilen, häßlichen, immensen Geröllfeldes, Blutblasen in den brandneuen Bergschuhen, den Blick auf den grausamen Verführer von Tränen verschleiert. Der Mann schloß mit einem Schritt zu ihm auf. "Es dauert nur eine Dreiviertelstunde, diese Geröllhalde zu erklimmen", sagte er ruhig, "und wir sind fast oben. Es ist nicht gut, jetzt stehenzubleiben. Vergiß den Schmerz. Setz einen Fuß vor den andern und denk daran, wie du dich freuen wirst, wenn du dich überwunden haben wirst." "Wir sind seit dem Morgengrauen unterwegs", erklärte der Junge rebellisch. Der Mann blickte ihn suchend an. "Gut", sagte er nach einer halben Minute sehr leise und deutlich. "Ich tue das hier nicht umsonst. Wir haben eine Abmachung." Er machte eine deutende Bewegung mit dem Zeigefinger nach oben. "Du weißt, ich habe drei Wünsche frei. Also, Wunsch Nummer eins und zwei: Du wirst jetzt den Mund halten und weitergehen, die Halde hinauf. Und Wunsch Nummer drei: Du wirst auch die Klappe halten, wenn du oben bist, bis ich dir das Gegenteil erlaube." Der Junge starrte ihn sprachlos an. Es zuckte wild um seine Lippen scheiße scheiße scheiße gottverdammte scheiße er preßte sie aufeinander, bis sie schneeweiß waren, schleuderte den Honig nach hinten und drehte sich um und ging los. So hoch so schön keuchte der Junge fassungslos und atmete dankbar über die Mondlandschaft der sechs verschieden großen blauen Seen von Ardiden im grauen Endlosgeröll. "Sie haben Ihre drei Wünsche billig hergegeben", sagte der Junge leise und sah den fernen Grat an, auf dem die untergehende Sonne Feuerfäden auslegte. Er zog den pinkfarbenen Schlafsack enger um sich. Der Mann atmete seine Zigarette aus. "Du hättest dich nicht gerne lachend vor mir ausgezogen. Du hättest dich nicht gerne nackt in dieser Landschaft von Geröll und sechs blauen Seen unterschiedlicher Größe für mich bewegt. Du hättest nicht mit mir ficken wollen", sagte er nach einer Ewigkeit. "Du hattest vom ersten Moment an Angst davor, daß ich es mir von dir wünsche." "Hatte ich, ja", sagte der Junge. Der Mann blickte in den Abendhimmel, sah dann ruhig auf seine dunkler werdende Hand mit der Zigarette hinunter, führte sie zum Mund und inhalierte tief. (Mann:) "Diesen Ort hier liebe ich mehr als alles andere auf der Welt. Es ist mein Ort. Er ist magisch. Wie die Liebe und der Luxus." (Junge:) "Ich glaube nicht an solche Sachen. Ich glaube nur an Scheiße. An die Scheiße, die ich sehe." (Mann:) "Ein Fehler." (Junge:) "Sehen Sie sich um. Hinter den Felsbrocken verstecken sie ihre leeren Gasflaschen, um sie nicht ins Tal zurück zu tragen." (Mann:) "Ein Fehler." "Die Sterne sind ganz nah", hauchte der Junge beim Pinkeln vor dem Zelt und zitterte vor Kälte. "Morgen werde ich drei Schritte vor ihm hinabsteigen und völlig verändert sein." Halt mich halt mich halt mich, flüsterte der Junge im Zelt und klammerte sich an den erwachenden Mann. Am Morgen ging die Sonne über dem Mann und dem Jungen auf,
die ins Tal hinab wanderten und farbenblind vor Glück waren.
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