Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Carsten Hein

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Carsten Hein

Sich entfernen

Weshalb mein Mund offenstehen könnte: ich weiß es nicht. Zumindest wüßte ich, daß ich nicht in der Lage wäre, Töne hervorzubringen, oder etwas, was an solche erinnerte. Denkbar wäre, daß etwas in meinem Mund zitterte, wenn ich noch einen besäße, etwas Pelziges vielleicht, sinnlos hin- und hergeworfen, oder er wäre geöffnet zum Beispiel beim Beischlaf zum besseren Atmen. Nein: zu schlecht die Vorstellung. Auf jeden Fall weiß ich noch, daß ich ihn einmal aufriß, um eventuell zu anderen - oder nannte man soetwas Nächsten - zu gelangen; beziehungsweise eher das Gegenteil, will sagen: eine in Gegenrichtung gelenkte Bewegung. Wassozusagenwäre: sicher - im tönenden Ausatmen nach hinten geworfen zu werden, weit und weiter denkbar: den Mageninhalt auszuleeren von fleischernen Klümpchen einer üblen Mahlzeit. Ich könnte mir den roten Faden, der zu mir führte, vorstellen: Bröckchen an Bröckchen um Schritt für Schritt abzutreten. Ich kann diese Spur nicht wahrnehmen, doch glaube ich, daß es sie gegeben haben könnte, während ich hier über das Erbrechen weiterdenke. Da mein Name keine Rolle spielt, sie niemals gespielt hat und auch niemals spielen wird, könnte ich gleich zum Wesentlichen übergehen. Moment - ich merke gerade, daß er mir entfallen ist. Gleich: beginnen wir mit den Umgebungsbeschreibungen. Ich sehe, ich weiß nicht, ob leider, eigentlich nichts, das heißt, es wäre nicht ausgeschlossen, überhaupt keine Augen mehr zu besitzen, beziehungsweise sie jemals besessen zu haben. Ein längst vergessener Grieche, meine ich mich erinnern zu können, hat seine zum Zwecke besseren Sehens selbst entfernt, ob ich auf die gleiche Weise verfahren bin, kann ich nicht mit Sicherheit bekunden, da mir nicht einleuchtend erscheint, wie soetwas vonstatten gehen sollte. Aber nun zur eigentlichen Erzählung: Wir könnten uns eine Straße vorstellen, eine hirngraue, oder ist das Hirn gar nicht grau, sondern vielmehr nikotingelb: vielleicht könnte sie unasphaltiert, rauh, steinig, also natürlich sein. Schlecht. Sollten besser beim Weg bleiben. Nun da wir gehen - zu schwerfällig: schreiten - auch unpassend - überschauen, durchschauen, übersehen. Nähme ich an, etwas würde sich mir mit mehr oder minder hoher Geschwindigkeit nähern, nichts Lärmendes, Blechernes, vielmehr etwas Weiches mit Klischeemonroelöckchen, engelsartig wie es im Buche steht, und gäbe ich ihm einen Namen, zum Beispiel: Paraquader, Gackgack-Tütü, Luise. Eine Bewegung eines Loches, ich vermute: körperlich hochangesetzt, vor Fett glänzend, eine weitere - und das Loch würde vibrieren. Wer ich denn wäre, könnte ich hören, wenn ich noch Ohren hätte und diese es zuließen, eigentlich wäre es auch vorstellbar, meine Trommelfelle selbst durchstoßen zu haben, da der Lärm meine Konzentration erheblich verringert haben könnte - naja und weiter: eventuell paarten wir uns später im Mondenschein, den penetranten Geruch von Gras und Geranien im Kopf, könnte sein, daß ich auch sie nicht hätte riechen können. Jedenfalls wären wir stumm und danach - wie war's oder was soll's, eine Antwort, zumindest irgendeine hätte sie aus meinen Zügen lesen können, wenn ich noch welche gehabt hätte. Und die Straße, die nichts anderes hätte sein können als eine dreckige Bettdecke, wenn ich noch eine spürte, war bloß ein Versuch, mich erneut zu entfernen. Um zum Anfangspunkt zurückzukehren, glaube ich, mich an noch etwas erinnern zu können: vielleicht einmal etwas Artikuliertes aus meinem Mund laufen gelassen zu haben - inmitten von Umrissen - die ich mir hätte vorstellen können. Hä - um mich herum - hähä. Gesetzt den Fall, ich hätte gesprochen und es vernommen, als meine Spur registriert, die sich von mir entfernte, sich durch einen Raum bewegend, einen Bogen beschreibend, an buddhaähnlich nickenden Nischen vorbei, an stoischen Wänden mit einem eventuell glotzenden Fenster und geschwächt zu mir zurückfände, und angenommen, ich befände mich nicht mehr dort, müßte das Suggerieren von Urlauten für alle nächsten und übernächsten Gedankengebilde ausreichen. Und selbst diese könnte ich mir zur Not noch wegdenken. Ich werde mich jedenfalls schonen, meine Kräfte sparen und aufhören, in Formen zu denken:-

Betrachtung I

Sicherlich wäre es möglich, die Ideallinie anzupeilen, angenommen den Fall, er wäre in der Lage gewesen, die Situation zu überblicken, doch das würde mehr Distanz erfordern, die ihm in der überfüllten Innenstadt nicht gegeben war, da er hier wie dort gestoßen und somit abgelenkt wurde. So sah er sich gezwungen, den beweglichen Hindernissen auszuweichen; er legte sich in verschiedene Kurven und wünschte sich nichts sehnlicher, weniger Körperkontakte über sich ergehen lassen zu müssen, da er jeden kurzen Augenblick, der ihm zwischen den Manövern übrigblieb, zum Einatmen nutzte, das ihn bis zur nächsten Berührung etwas über sich hinauswachsen ließ, bis schließlich der mit Sicherheit darauffolgende Treffer an seinem nicht speziell dafür geschaffenen Körper ein Entweichen der Luft nach sich zog. Ihm war bereits etwas schwindlig geworden und vom Rückenmark her legte sich eine schwere Hand auf seinen Hinterkopf, deren Finger sich einzeln in seine Hirnschale krallten, um auf diese Weise seine Beweglichkeit einzuschränken. Und je schwächer er zu werden drohte, desto mehr breitete sich eine unverständliche Ahnung aus, man könne ihn aus irgendwelchen widrigen Umständen heraus ansprechen. Er mußte in diesem Moment ganz entschieden nicht an seine Mutter denken, diese überdimensionale Krake, die ein Mal an seinem Bauch hinterlassen hatte, wofür er sich noch immer insgeheim schämte, und deren zahlreiche Arme, die alle ein geradezu unkontrolliertes Einzelleben führten, eine Spannbreite aufwiesen, die eigentlich nur mit den Ausmaßen eines Zirkuszeltes zu vergleichen gewesen wären. Als er um eine Ecke bog, wäre er fast mit einer alten Frau zusammengestoßen, die sofort nach seinen Händen gegriffen hatte und die mit der Haarigkeit ihrer Fingerrücken die den Handinnenflächen eingelassenen Furchen beschrieb. Sie redete etwas in einer Sprache, die er nicht verstehen konnte, doch als sie einen Kugelschreiber durch diese Linien führte, entriß er der Frau eine seiner Hände, um nach dem Schreibgerät zu greifen, klemmte es zwischen seine Zähne und nestelte in der Jackentasche nach einigen ausgedienten Bibliothekskärtchen, legte diese in die andere Händfläche, damit die Alte wohl verstand, daß er den Platz brauchen würde und signierte eines der Karteikärtchen nach dem anderen. Als er sich umdrehte, blickte er in ein rotes Männergesicht, die dazugehörende Hand hatte eines der Papierstückchen ergriffen, eine weitere Person tauchte auf, die diese Handlung wiederholte, ein Ring hatte sich fest um ihn geschlossen, sodaß er sich gezwungen sah, dem Ziehen nachzugeben und den Hinterkopf in den Nacken sinken zu lassen. Seine Augenpartie füllte die gesamte Fläche - und nachdem der Feintrieb den Objekttisch weiter abwärts gesenkt hatte - war nur noch ein Gesicht zwischen Haaren, Tüchern, Mützen, Hüten zu erkennen, das mit jeder Drehung kleiner wurde und sich in einem Punkt verlor, der schließlich in einer breiartigen Oberfläche, die sich in grellem Licht auflöste, verschwand.

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18

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