Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Martin Droschke

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Martin Droschke: geb 1972 in Augsburg, lebt in Fürth. Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Laufschrift". Einzelveröffentlichung: "Störkraft. Geschichten." Bookware für PC. Stora Verlag, München, 1995.

Martin Droschke

Wie ein Patient

An den Wänden hing es: Aquin. In einzelne Photographien zerstückelt. Ein Bild für jede Nuance der Landschaft, eines für den persönlichen Eindruck von jedem. Photographien von zu Spiralen verschraubten Zypressen, die zusammengequetscht waren vom Drücken der eigenen Äste und deren Wachstum nach oben zu größter Bedeutung - ihrem Streben und Ringen nach höchster Beachtung; und undurchdringlich das Dickicht: kein Blick in das Zentrum. Zum Herzstück. Zum Leiden.

Einen Augenschwenk weiter auf gleicher Höhe: sonnenversengt eine Weide, ein Quarantänegebiet - niemals von Menschen begangen, beackert, nachts aber heimlich von einzelnen ausgebrochenen Ziegen gemäht -; und eine zusammengedrückte Zypresse links hinten auf einem Hügel: als Kontra: daß es noch Hoffnung gibt. Zypressen auf allen Photographien als Zeichen, dem keiner entkommt, überall in Aquin.

Abends, hinter geschlossenen Fenstern: Die Hoffnungslosigkeit spuckte heisere Töne. Auf der anderen Seite der spiegelnden Scheiben Herbstwetter: Niesel; ein Umweltverhalten, das nicht nur mich, Tapas, ermüden ließ, auch meinen Bruder.

Der Pfarrer trat zu uns ins Zimmer zurück und stellte ein Silbertablett auf den Holztisch, um den wir herumstanden, offerierte uns schwarzen Kaffee; stellte Zucker und Milch aus einem Schrankfach bei (ich sah, daß es ansonsten nur Kerzen enthielt) und deutete auf die Photographien, erklärte: "Die Pfarrfahrt im vorigen Jahr. Auf diesem Photo erkennen Sie Thomas, der das T-Shirt mit der Aufschrift 'Aquin meine Sehnsucht' auf dem Leib trägt. Neben dem Kleinen, dem Ministranten. Einem Bruder von Thomas, dem jüngsten. Sie müssen wissen: Gott nahm vor einigen Jahren den Vater der beiden zu sich. Es war ein tragischer Unfall, ein Defekt an einer Maschine. Wir trauerten sehr. Thomas ersetzt meinem Ministranten den Vater. Manchmal schlägt er den Kleinen. Das macht einem Kleinen nicht viel, wie Sie wissen. Beten heilt alles, berichtet die Bibel, ich habe dem Kleinen gelehrt, seinen Hände zu falten. Gott gab das Wort in der Wüste. Minuten später: er lächelt. Ich kenne ihn gut: über Thomas. Besser als all meine anderen Diener."

Er schenkte Kaffee aus der Kanne, wir nahmen die sparsamen Tassen entgegen - eher für einen schweren Espresso als für Filterkaffee geeignet. Ich dachte, als ich ihm die Tasse aus der Hand nahm: Kaffeebehälter müssen für eine akzeptable Dosierung jeweils der halben Größe gewöhnlicher Alkoholika-Gläser entsprechen: ein Bierkrug für Filterkaffee, ein Longdrinkglas für Mokka, Weingröße für Espresso und so weiter.

Er fragte "Milch?" und ich nickte, bekam das Kännchen gereicht, bekam einen Löffel. Er fragte "Zucker?", mein Bruder nickte, er sagte: "Nehmen sie sich."

Ich goß meinem Kaffee bei, einen großen Schuß, daß die Tasse als vollgeschenkt durchgehen konnte, ging mit den Augen die Wände ab, während ich die schwere Kondensmilch langsam verrührte.

Vor einer verdorrten Hecke - die angesprochene Photographie - stand er: Thomas. Als wäre da ein Inkognito-Balken: Die Augen von einer Sonnenbrille geschwärzt, der vieles erklärende Blick hinter runden Scheiben getönter Gläser verschanzt; die Lippen zu einem gezwungenes Lächeln gebogen. Das Wichtigste an einer Photographie also fehlte. Unter das Bild gehörte ein Schild mit den Worten 'Am Thema vorbei'. Man muß doch den Ministranten des Dorfes, die, wie ich an der Füllung eines Regales erkannte, hier Dosen an Bibel bekamen, mit pädagogischen Maßnahmen kommen und darf ihnen nicht ein Bild vor die Nase heften, das lehrt, wie man listig den dokumentarischen Wahrheitscharakter des Objektives umgehen kann, Ministranten sind trockene Schwämme - wen wundert's, sie dürfen die Oblaten kauen und kriegen den Wein nicht -, die sich mit allem vollsaugen, das den Geschmack von Versteck trägt, sie müssen das ständige Beichten ausgleichen, das ständige Innerstes-auf-den-Tisch-legen. Man darf Ministranten nicht wie andere Kinder behandeln, man muß Ministranten als solche begreifen. Ministranten lügen mehr als andere Kinder, schließlich brauchen sie Stoff für die nächste Beichte. Das sollte man nicht unterstützen mit solch einem Bild.

Auf der Photographie, neben Thomas, der Kleine, sein Kopf genau auf der Höhe, wo auf dem T-Shirt 'Aquin' steht. Er interessierte mich vorerst sehr wenig.

Der Pfarrer deutete und wir setzten uns endlich in die Stuhlgruppe, er wartete, daß ich mit dem konkreten Anlaß unseres Besuches beginnen würde, er wußte ja nur: Wegen Thomas, der einen Obdachlosen ermordet hatte, waren wir da, wegen dessen Verhaftung.

Ich fragte den Bruder nach einer Zigarette, zwar stand kein Aschenbecher am Tisch, ich dachte, der Pfarrer wird ihn schon bringen, will er nicht, daß ich den Unterteller mit Goldrand zur Aschenablage umfunktioniere. Ich sah den Pfarrer herausfordernd an, zündete, legte Rauch auf den Tisch. Er sagte, eigentlich sei dies ein rauchfreies Zimmer, wie alle in seiner Pfarrei, aber das mache nichts. Er schien aber nicht begriffen zu haben, daß ich beim Rauchen auch abaschen würde und ohne Aschenbecher irgendwo hin.

Ich begann, zu erklären, wo das Problem lag, die Sache mit dem Geständnis von Thomas, daß man es überprüfen müsse, stellte die Kaffeetasse zur Seite und streifte am Goldrand des Untertellers die Asche ab, sah ihm direkt in die Augen und wußte, daß er sich anstrengen mußte, sich zu beherrschen.

Ich bekam vom Bruder einen skeptischen Blick. Ich lehnte mich frei und entspannt in den Stuhl zurück und klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, winkte mit ihr.

Der Pfarrer blieb ruhig. Für einen Ministranten gäbe es, wie ich ihn einschätzte, keinen schmerzfreien Ausweg aus dieser Geschichte: Eingeständnis, Reue und Buße: Hose herunter, sich betend über ein Holzscheit knien.

"Sie fragen: Warum; aus welchen Beweggrund hat Thomas den Obdachlosen ermordet. Ich sage: Ich weiß nicht. Ich kenne ihn wenig. Das Amt eines Priesters verschlingt zu viel Zeit, um sich auch um Menschen kümmern zu können. Solche wie Thomas. Ich kenne ihn wenig. Ich muß ihn nicht kennen. Der Hirte leitet die Schafe, aber natürlich speist er - wie eben Hirten - an anderen Plätzen aus anderen Tellern."

"Aber sie waren mit ihm in Aquin." Ich beugte mich vor, nahm die Zigarette - durch seine Worte hilflos geworden - wieder zwischen die Finger. Auf diese Aussage hin mußte ich einfach nochmal am Goldrand abaschen, aber an einer anderen Stelle, versteht sich.

"Ich war dort mit vielen."

"Ah ja", fiel mir ein, die Antwort war mir zuviel und ich mußte mich wegdrehen: Auf den Bildern die sengende Sonne des Mittags, die Photos in Postergröße, in einfache Halter gelegt, an die Wände genagelt.

"Auch sagt die Bibel: Gott läßt nur zu, wie es kommen muß. Gott wird ihn richten. Der Mensch ist nur fähig, zu handeln, wer richten will, der begeht einen Frevel an Gott, er versucht, sich auf seine Stufe zu heben. So wird er unausweichlich an seinem Streben zugrunde gehen."

Der Bruder hielt seine Tasse gelangweilt, auch er ging mit den Augen die Photographien ab. Ohne den Kopf zu bewegen, geordnet ein Bild nach dem anderen betrachtend - und fragte sich nach der richtigen Zeitschrift für einen Reiseartikel: Er, Journalist, durchdringt für Touristen verschlossene Türen, betritt gedunkelte Raritäten italienischer Schönheit. Eine antike Grabkammer, nur so als Beispiel, erst wenige Jahre vorher entdeckt; oder kühle unterirdische Gänge einer alten Festung, die jeder Belagerung standhielt. Der Bürgermeister natürlich ist es, der ihn herumführt und ihn natürlich auch bittet, ihm seinen Weinberg zeigen zu dürfen, der ihm in einer Mischung aus Italienisch und Englisch darlegt, wie der spezielle Rote der Gegend gekeltert wird - immer die Zeichensprache als dritte zur Hilfe. Rotwein, von dem sie sich einiges hinter die Binde kippen, natürlich, bis der Bürgermeister dann auspackt, die Seitensprünge, die Frauengeschichten erzählt, bis er, ziemlich besoffen, von einem Fehltritt mit seiner Nichte berichtet, bis er, völlig besoffen und lallend vom Bruder nach Hause geführt werden muß und der Frau übergeben wird, der Bruder sich hinlegen will und die Italiener ihn auf dem Weg ins Hotel in eine Partie Boccia verwickeln, der Bruder bei einer Autowerkstattfamilie landet - der Morgen ist bereits aus dem Himmel gekrochen -, von sieben Kindern und der Mama mit Café bewirtet wird. Träumend sein Blick auf den Spiegel des Pfarrfenster. Dahinter nüchtern das Herbstwetter; Laubregen, Röcke haltende Landfrauen irgendwo in der Dunkelheit, gummistiefelnde Kinder.

Ich nippte vom Kaffee, dachte: Nicht übel, er schmeckt mir. Ich sagte: "Also, Herr Pfarrer, er hat einen Menschen ermordet. Wir wissen den Namen des Opfers noch nicht. Sie sind der Pfarrer des Dorfes, wir wurden zu ihnen verwiesen, nun sagen Sie, was oder wie und warum, wer ist dieser Thomas, verdammt, es ist spät, irgendwann will ich auch meine Ruhe ... und so weiter."

"Ich erwähnte bereits, ich bin nicht bereit, das von der Gemeinde in mich gesetzte Vertrauen zu brechen. Er suchte mich nach der Frühmesse in der Sakristei auf, um mir zu beichten."

"Gut", viel mir ein und ich rollte die Glut ganz langsam über den Goldrand des Tellers, beobachtete ihn. Diese Haltung, dachte ich, nimmt nur ein Mensch an, der einen anderen loswerden will. Also war da wirklich was unter dem Schädel, das er versuchte, zu unterschlagen. Also wollte er etwas verschweigen mit seinem Rückgriff auf Regeln der Vorzeit. Also mußte ich bohren. Bei Pfarrern, dachte ich, gibt es nur eines, um ihnen unter die Kutte zu kommen: Du mußt mit Intimitäten gegen ihn vorgehen. Nur bleibt die Frage: Wo sind sie.

"Er hat mir sein ganzes Leben gebeichtet, ab seiner Schulzeit", sagte er präventiv.

Ich widerholte mein "gut". Ich beugte mich über den Tisch. Ich argumentierte sehr schief, um ihn einfach zu provozieren, zum Beispiel sagte ich: "Sie wissen genau, was hier vorging, mit dem Obdachlosen soweiter. Ihr Schweigen macht Sie verdächtig. Sie kennen den Hergang, wissen um das Motiv. Sie machen sich strafbar, sage ich Ihnen, wenn Sie ihr Wissen nicht weitergeben. Ihr Geplapper von Beichtgeheimnis ... und so weiter interessiert mich nicht viel." - und ich hantierte sehr aggressiv mit der Zigarette, fuchtelte mit der Glut, um durch Zufall ein Loch in seine Klamotten - falls sie mir auskommen würde - zu brennen. Die skeptischen Blicke des Bruders griffen nach meinem Sprachapparat, vergeblich, bekamen ihn doch zu fassen, hielten mir meine Zunge zumindest im Zaumzeug, so daß ich die Schublade eines anderen Wortschatzes doch lieber zuließ. Ich wollte einfach beleidigend sein. Irgendwie reagierte er nicht. Irgendwo war da etwas in meinem Hinterkopf, eine alte Geschichte, die wieder hochkam. Sicher waren die Ministranten, wenn sie hier Dosen an Bibel bekamen, anständig, ruhig, da einer von ihnen, einer, der negativ auffiel, länger dableiben mußte, um aufzuräumen, der Ministrant dann allein mit dem Pfarrer war.

Mich schüttelte und ich brach ab, nahm einen letzten Schluck aus der Tasse, pausierte, blickte den Bruder an, um ein Zeichen lesen zu können, wenn ich zu weit gehen würde, wiederholte: "Er hat einen Menschen ermordet. Sie sind der Pfarrer des Dorfes. Nennen sie endlich Hergang, Motiv und so weiter. Fangen Sie an, ich bin müde, es ist schon sehr spät, verdammt: Ich will heim."

Jetzt endlich ein Nicken mir gegenüber, schließlich war der Pfarrer ein Mann mit Verständnis. Irgendwann, dachte ich, muß er ja aufgeben. Ich dachte mir: Jetzt ist er weich. Ich lehnte mich breit zurück und verschränkte die Arme, koppelte meine Augen an seine Lippen, registrierte die kleinste Bewegung. Den Vorlauf zu einem schweren Geständnis, dachte ich.

Er faltete seine Hände, räusperte sich, öffnete seinen Mund, daß seine Zunge mir sichtbar wurde: belaglos. Er setzte an, eine Buchstabenfolge zu formen, arbeitete schwer mit den Lippen, aber ließ sie nichts als die längst bekannten Worthülsen ausspucken, denen ich ausweichen wollte, aber sie kamen gezielt. Wieder vergaß er zu gestikulieren, zu intonieren schien ihm nicht wichtig: Wahrscheinlich kam er vom Wort her und seine Art des Spreches sei klarer und unverfälschter als die allgemein übliche inszenierte Gesprächsform: Ein Wort allein kann nicht lügen, bloße Worte zu Sätzen gestapelt können nur wahre Aussagesätze ergeben.

Da hätte ich ansetzen müssen, um ihn zu packen.

Er begann mit: Er habe schon mehrmals deutlich gesagt. Er vergrub sich hinter Briefen des Bischofs, einem Edikt, erwähnte ein nur zum internen Gebrauch gedachtes Rundschreiben an alle Pfarreien des Bistums, das anwies, nicht zu vielen Obdachlosen Hilfe zu geben, die strömten sonst nur noch in Massen. Er ratterte Listen mit Spendeneinnahmen herunter, wohl, um das in ihn gesetzte Vertrauen zu dokumentieren, sprach in lebhaftem Tonfall über verschiedene Aktivitäten seiner Pfarrei, kulturelle wie Bibelvorträge, die gut besucht seien, oder den Hirtenabend zur Weihnachtszeit, schnitt auch soziale an wie das Kaffeekränzchen der Alten, betonte die Möglichkeit, jederzeit beichten gehen zu können. Er schloß mit: "Es ist eine engagierte Pfarrei."

Ich wollte nicht aufgeben; wenn es schließlich Kaffee gab. Obwohl mir - wie immer um diese Uhrzeit - ein Schnaps oder ein Bier viel lieber gewesen wäre. Die Frage nach dem ermordeten Obdachlosen vermied ich, weitere Fragen nach Thomas tropften im Schleim der kalligraphisch perfekt an die Wand gemalten Gebote ab - ich fragte mich nach der Bezeichnung der Schriftart. Nutzlos, entschied ich schließlich, verstockt der knöchrige Jesus-Vertreter: Bewohner eines Geistesmuseums für Wälzer ab 800 Seiten, möglichst Wälzer in Handschrift. Seine Berufung: Sie dem abgenutzeten Volk in pädagogischer Lautmalerei zu erklären, so, daß sich Fragen von selber verhindern, das Volk sich anderweitig vergnügt: Im Wettkampf zum König der Spende. Ich spürte den ersten Schub einer Allergie.

Wir verließen also das Haus - einfach verschwendete Zeit - und fluchten erst draußen, aber gewaltig. Nicht ich alleine, der Bruder trug einiges bei.

Der Pfarrer brachte uns noch bis zur Türe, erzählte nebenbei über die Mentalität seiner Schäfchen, meinte: "Ein völlig anderer Schlag als bei euch in der Stadt" - jetzt bekam er sein Maul auf, jetzt wollte ich nicht mehr, jetzt war es zu spät. "Sie müssen sie nehmen, so wie sie sind; das rate ich Ihnen, sonst werden sie nichts über Thomas, den Obdachlosen erfahren; ich darf ihre Sprache verwenden: und so weiter."

Ich sah ihn an, sagte: "Paßt schon."

Wir mußten erst ein kleines Zimmer durchqueren: Ministrantengewänder auf Kleiderbügeln. Dann vom Gang aus bemerkte ich ihn durch den Sehschlitz der spaltbreit offen gelassenen Sakristeitüre. Dahinter saß er: der Kleine, der durchgebogene Ministrant mit dem Weihrauchfaß, den meine Blicke bei der Verhaftung von Thomas verloren hatten, von dem ich jetzt wußte - die Photographie aus Aquin -, daß er ein Bruder von Thomas war; und der jüngste. Ich dachte, er sollte um diese Zeit längst daheim sein, ich weiß, wie es weitergeht, ist ein Junge um diese Zeit nicht zuhause und lümmelt im Sofa, sieht fern.

Ich sah ihn nur einen Bruchteil schneller Sekunden, länger war es nicht möglich, ohne stehen zu bleiben, ihn ansprechen war nicht mehr nötig, hätte mich über die Maße belastet. Ich wußte in diesem Moment schon zu viel; oder besser: ich ahnte. Ich zog Parallelen zu meiner Biographie. Ich dachte mir: Nur, so jung war ich nie.

Während der Pfarrer erklärte: "Mit Fakten und Logik können Sie niemanden hier überzeugen, Herr Tapas, die Leute sind einfache Menschen. Erdverbunden. Sozusagen archaische Menschen. Darum fuhren wir auch nach Aquin."

Der Kleine sah mir entgegen, nur einen Bruchteil schneller Sekunden, und ich verstand ihn.

Wieder tauschten wir Blicke, wie schon bei der Verhaftung von Thomas. Wie ein Patient saß er da, dem die Angst geht vor einer kleinen Operation. Sein Blättern in einem Gebetbuch verriet ihn: Er las nicht, er saß geduckt, er scharrte mit seinen Füßen. Er wollte wohl lieber nach Hause, er blieb aber sitzen, wie ihm gesagt worden war: Hochwürden führt ein Gespräch mit dem Herrn aus der Stadt. Darum warte. Als Kind hast du Zeit.

Ich ließ es - entgegen meinem inneren Drängen -, stehen zu bleiben, ich ging einfach weiter, begnügte mich, ihn einen Bruchteil schneller Sekunden gesehen zu haben und konzentrierte mich auf den Pfarrer. Ich dachte: Verdammt, wo ist Bier, um mich von mir zu entfernen, wo ist Schnaps, um zu verhindern, daß ich eingreifen werde. Weiß du noch, Bruder, was ich dir damals erzählte, ich wohnte noch bei den Eltern, Du, weil Du schon 18 warst, nicht mehr, keine Geräusche waren im Zimmer, ich sagte, ich werde nie mehr mit einer Frau schlafen, wenn ich verliebt bin - so formulierte ich damals -, ich will nicht, daß sie mit dem verseucht wird, das in mich gespritzt wurde, auch wenn ich dabei verdiente. Er gab mir das Geld im voraus. Daß ich mich wehrte, als wir bei ihm waren, interessierte ihn nicht.

Der Bruder vor mir fuhr sich durchs Haar, deutete auf ein Mariengemälde, fragte den Pfarrer: "Ein Original?"

Ich dachte: Tapas, du denkst und du fragst dich zu viel. Nur weil für dich seit damals alles an Licht in einem nicht üblichen Winkel gebrochen wird, muß dieser Winkel nicht immer der richtige sein. Es sind über 10 Jahre vergangen seit deiner Geschichte.

"Maria in Erwartung des Engels", bekam mein Bruder entgegnet, "flämische Schule, gestiftet um 1650."

In der Türe schließlich das Schütteln der Hände, der Bruder zuerst und dann ich, wir tauschten noch einige Worte, ich sagte: "Der Bruder von Thomas sitzt innen, der jüngste, um diese Zeit noch."

"Er nimmt die Verhaftung von Thomas sehr schwer", formulierte der Pfarrer. Er ließ meine Hand los und faßte die Klinke. Er fragte mich: "Waren sie auch Ministrant, als Sie ein Junge waren."

Ich sagte: "Das ist mein Problem."

"Auch Thomas war es. Ein treuer verläßlicher Kirchendiener, der alles für seinen Hirten tat. Jetzt ist er zu alt. Jetzt kommt sein kleiner Bruder zu mir."

Ich zog meinen Mantel zurecht und dachte: Aus deinem Erinnerungsalbum möchte ich nichts. Bleib mir vom Hirn mit deinen Geschichten. Ich verzichte auf jeden weiteren Hinweis, ich habe keinen mehr nötig. Danke, ich möchte kein Heiligenbild.

Der Bruder nickte mir zu und wir drehten uns, setzten uns in Bewegung, liefen in Richtung des Wagens. Er stoppte, kramte in seiner Jacke, reichte mir eine Zigarette, steckte sich auch eine an, gab mir Feuer. Er sagte: "Mir war das zu viel."

Ich sagte: "Laß uns fahren. Laß uns unterwegs eine Wirtschaft suchen. Ich möchte ein Bier."

Wir erreichten den Wagen, ich gab ihm den Schlüssel: Er wollte fahren. Er sperrte, die Zentralverriegelung schnalzte. Ich warf die nur zur Hälfte gerauchte Zigarette in eine Pfütze, stieg in den Wagen. Er zündete, legte den ersten Gang ein, wendete. Ich dachte nur: Endlich fahren wir. Weg hier.

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Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18

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