Dorothea Mosl

Gegenüberstellung vor dem Spiegel: Narziß und Orpheus

Die Auseinandersetzung des Voyeurs mit seinem Selbstbildnis

Michel Foucault hat den Spiegel zum Ort der Utopie ernannt, denn die "Geographie" des Spiegels ist eine imaginäre - dort, wo der Spiegel den sich Betrachtenden abbildet, ist nichts als Abwesenheit. Die Utopie des Voyeurs, der Wunsch nach vollständiger Entfernung von der Welt, findet im Spiegel, der auch als Augenmetapher dient, eine weitere Ermöglichung.

Der Ort, an dem der Voyeur seines Kontrollblicks verlustig geht und an dem die Wunde seines defizitären Lebens bloßgelegt wird, ist der Ort der Gegenüberstellung vor dem Spiegel. Ein klassischer Ort des Unbehagens freilich, da hier die Projektion ein Ende finden und die Reflexion beginnen könnte. Doch gerade diese Konzentration auf sich selbst im Blick, der vor und im Spiegel zugleich zu Absender und Empfänger wird, den Betrachter zum Betrachteten macht, vollzieht sich nicht, da der Voyeur vorgibt, sich im Spiegel nicht wiederzuerkennen. Zwischen Wirklichkeit und Spiegelung schiebt sich das fremde Selbst, das das zurückgeworfene Gesicht zur Fratze verzerrt und damit die Ablenkung des Blicks und den Rückzug in den Voyeurismus legitimiert.

Der Betrachter als sein eigenes visuelles Objekt nimmt seine Zuflucht wieder zur Projektion. Das, was er sieht, ist nicht er selbst. Doch die Rettung ist nur eine scheinbare, denn vor dem "blinden" Spiegel sieht der Voyeur im Grunde sehr genau - seine schreckliche Erkenntnis ist, daß er im Blick auf sich selbst seinem eigenen Tod begegnet. Wie Narziß auf der Wasseroberfläche sieht und erlebt er sich im Spiegel. Und die Vortäuschung, die Spiegelung, ist Medium der Wahrheit des Todes. Das Verschwinden, die Voraussetzung zur Ausübung des Voyeurismus, wird erstmals schmerzlich bewußt. Der Ort des Spiegels markiert das Kontrollgebiet des Anderen, die Stelle, an der das Verschwinden nicht länger selbstbestimmt ist und an der dem Voyeur der Andere in Gestalt des eigenen Todes "zu nahe tritt".

Damit ist ein Dilemma angesprochen, das in besonderem Maße am Thema des Selbstportraits in der Malerei erkennbar wird. Die Selbstdarstellung beinhaltet immer auch die Auseinandersetzung mit der Problematik der eigenen Zeitlichkeit. Der Betrachtende-Betrachtete blickt am Ort des Spiegels ins Nichts. Denn das Auge, selbst Spiegel, erscheint im Spiegel in der Vergrößerung wiederum als Spiegel des Betrachters, der sich en miniature auf der Pupille des Spiegelauges erkennen kann, und so weiter ad infinitum. Die Potenzierung des Spiegeleffektes kommt in letzter Konsequenz einer Erblindung gleich; das "Sehen des Sehens" radiert das Auge aus und reduziert es auf einen schwarzen Fleck, ein Phänomen, das in zahlreichen Werken M.C. Eschers vorgeführt wird.

Der eigene Körper eignet sich nicht zum voyeuristischen Objekt, er hält dem Kontrollblick des Voyeurs nicht stand, die "Spielregeln" müssen zwangsläufig durch Fluchtbewegungen vor und hinter dem Spiegel wieder in Kraft gesetzt werden. Die Meidung des Eigenbildes kann für Narziß nur deshalb gelingen, weil der ominöse black spot selbst zum Zentrum der Betrachtung und zum Sehnsuchtsziel des suchenden Blicks wird. Das Auge wird ausgespart, an seine Stelle tritt das Prinzip des Magnetismus, des Soges des "blinden Flecks", gleichzusetzen mit dem Erleben des eigenen Todes. In ihm erst findet die Suche nach dem idealisierten Liebesobjekt ihre Erfüllung, eine Erfüllung freilich, die mit dem Leben bezahlt werden muß.

Der Blick des Orpheus aber schließt diesen black spot aus; begegnet er dem eigenen Blick im Spiegel, so tritt ein, was geschieht, wenn zwei magnetisierte Körper mit gleichgepolten Seiten aufeinander treffen: Sie stoßen sich ab, prallen voreinander zurück. Der Sog des black spot liegt für Orpheus nicht in der Aussparung - wie bei Narziß -, sondern in der Erweiterung. Die Suche findet in der Entfernung und wörtlich "im Jenseits" statt.

Auf die Malerei angewandt, stellt sich der Mechanismus voyeuristischer Spiegelung am deutlichsten in Velasquez' berühmten Gemälde Las Meniñas dar. Im "Bild im Bild", dem Spiegel, werden Königin und König als "unsichtbare" Zuschauer im Atelier sichtbar. Der Maler an seinem exponierten Ort hat wiederum die Gelegenheit, diese Betrachter zu sehen und damit zu bannen - er wird zugleich zum Repräsentanten der königlichen Voyeure "im Bild", zum Statthalter der Beobachter der Beobachteten. Es zeigt sich, daß der voyeuristische Blick nur in der Entfernung gewährleistet bleibt, in der körperlichen Abwesenheit oder auch in der Potenzierung der voyeurisitschen Wahrnehmung. Der Zirkelschluß sichert das Fortbestehen des "Sehens des Sehens", die Suchbewegung als Movens des voyeurisitschen Aktes bleibt gewahrt und endet nicht in narzißtischer Fixierung. Auch das Problem der Zeitlichkeit des Voyeurs offenbart sich am deutlichsten am Beispiel des Selbstportraits. Die Darstellung des Malers vor der Staffelei als häufigst gewählte Gestaltung des Sujets suggeriert ein Beginnen, das de facto längst seinen Abschluß gefunden hat, sonst könnte das fertige Gemälde als solches gar nicht vorliegen. Die Jetzt-Zeit des Dargestellten muß während der Darstellung beständig überschritten sein, andernfalls müßte sich die gestaltende Hand unablässig selbst übermalen, es entstünde letztendlich ein schwarzes Bild, die Übersetzung des black spot. Das Selbstportrait, der gemalte Spiegel, setzt für den Beobachter und Beobachteten in einer Person - den Portraitierten - eine Zeit, die nicht ist. Das macht den Voyeur zum Wanderer zwischen den Welten, einem Orpheus im Grenzgebiet zwischen Leben und Tod.

In Jean Cocteaus Film Orphée wird die Verschmelzung von Tod, Transgression und Narzißmus unter Vorlage des Orpheusmythos in Szene gesetzt. Der Spiegel wird zum wesentlichen kommentierenden Requisit ernannt. In Cocteaus Film sind die Spiegel durchlässig für den Tod (personifiziert durch eine schöne Frau) und für die jüngst Verstorbenen, die durch sie hindurch in die sogenannte "Zone" - die Unterwelt - gelangen können. Der Spiegel wird zur Furt, die Unregelmäßigkeiten seiner Oberfläche symbolisieren die Wellenbewegungen des Styx.

Heurtebise, der Todesengel und Führer durch die Unterwelt in Cocteaus Film, teilt Orphée einmal die Schwellenfunktion des Spiegels mit:

Ich verrate Ihnen das Geheimnis aller Geheimnisse... Die Spiegel sind die Tore, durch die der Tod kommt und geht. Und dann noch: Betrachten Sie sich Ihr Leben lang im Spiegel, und Sie sehen den Tod arbeiten, wie Bienen in einem gläsernen Bienenstock.

Dem Voyeur wird der Spiegel vor allem durch seinen Doppelungseffekt gefährlich, wie das Auge ist er Spiegel und Schwelle zugleich. Die "Kollision" von Spiegel und Auge wirft ihn auf seine Begrenzung zurück: Er, der als Grenzgänger an der Schwelle steht, erfährt in der Gegenüberstellung vor dem Spiegel bereits die Unausweichlichkeit des eigenen Todes, vor dem sein Kontrollblick versagt.


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