Jaromir KonecnySchach dem VoyeurDer Suk lärmt und trubelt: Käufer und Verkäufer, Radios, Kasettenrecorder, Digitaluhren auf dem Boden im Dreck neben einheimischer Ware: Taschen, Sandalen, Gürtel, Halsbänder. Ein Schwarm von schwarzen Lederjacken verstopft den Weg, ein Raben-Schwarm - tote Tiere. Ein Stück weiter Teppiche mit grellen orientalischen Mustern, dahinter, wie eingeschüchtert: Muscheln, Steine, getrocknete Kräuter. Die Läden der vielen Goldschmiede lungern faul in der Sonne herum, Stände mit fleischgefülltem Chobza und Coca-Cola greifen die Vorbeigehenden mit ihrem gnadenlosen Geruch an. Ich lasse mich mit dem dichten Menschenstrom treiben, eine Hand über dem Geldbeutel in meiner Jeanstasche. Die Nachmittagssonne prallt auf das bunte Getümmel da unten, eine Brise treibt mir Sandkörner in die Augen - das Weiße der Schiffe im nahen Hafen flattert vor meinem Blick wie eine Schar von Weißlingen mit ihren Flügeln. Ein zerknittertes Zeitungsblatt fliegt an mir vorbei - der Müll auf den Straßen verteilt sich ständig von neuem, keine Stelle ist weniger mit Dreck belegt als eine andere - die ganze Stadt, die Hauptstadt dieses Landes, entartet zu einem riesigen Müllhaufen. Die Schiffe verstecken sich hinter den schmutzigen Wänden niedriger Häuser. An einer Straßenkreuzung fesselt mich kurz der Ausblick auf einen menschenleeren, sandigen Platz. Dahinter das Meer. Einige verwilderte Hunde raufen dort um einen abgekauten Schafschädel, ein Händler wirft nach ihnen mit einem Stein - sie ignorieren ihn. Was sind Schläge schon gegen den Hunger? Eine neue Gasse. An einer Haustür tänzelt ein alter Mann, verdreckt, mit Geschwüren im Gesicht und entstellten Lippen. An seinem Hals hängt eine gestrickte Tasche, aus der er dem dahintreibenden Menschenstrom handgeschnitzte Flöten feilbietet. Als ich mich an ihm vorbeidrängen will, faßt er mich am Arm. Sein verstümmelter Mund versucht ein Lächeln zu formen, aber es wird nichts daraus, nur eine ekelhafte Grimasse. Verwirrt bleibe ich stehen, mit einem Ärmel fest in seinen Klauen gefangen. "Ischtara, ischtara..." Gleichzeitig mit den Lauten schleudert er aus seiner Kehle einen Speichelschwall heraus - er fließt sein Kinn hinunter. "La, mafisch...", wehre ich ab; er läßt nicht locker. Ach, was soll's, dann kaufe ich mir eben eine Flöte. Ich zeige auf eines der Instrumente. Er zieht das Ding heraus, bringt es an seine schrecklichen Lippen und führt mir eine paar Töne vor. Dann, unerwartet, schiebt er mir das besabberte Stück Holz in den Mund: "li'ib". Wie gelähmt, überrascht durch seine Tat, blase ich in das Rohr. Seine Spucke, schon kalt, benetzt meine Lippen, mein Magen dreht sich wie am Spieß. Wieder bei Sinnen, reiße ich das Zeug aus dem Mund, stecke dem Krüppel eine Banknote in die Hand und laufe mit der Flöte weg. Am ersten Getränke-Wagen kaufe ich mir ein Cola und spüle und spucke... spüle und spucke!.. Ich habe den verfluchten Vertrag für drei Jahre unterschrieben, aber schon jetzt, nach elf Monaten, weiß ich nicht mehr, wie ich es hier so lange aushalten werde. Und Vertragsbruch werde bestraft - das hören wir jeden Tag. Nicht nur das Land erinnert mich an ein Gefängnis. Die Regeln! sind die Zwangsjacke, unter der mir langsam die Luft ausgeht. Sie zermürben die Absicht, hier genug Geld für eine sorglose Zukunft in der Heimat zu verdienen. Die Lust am Abenteuer ist mir schon vor langem vergangen. ...ich verpflichte mich, die Gesetze und Gewohnheiten des Gastlandes zu befolgen... Ja, so einfach ist der letzte Satz des Vertrags gewesen. So einfach. So kurz. Gelacht habe ich, als man mich fragte, ob ich ohne Schweinefleisch auskommen würde, ohne Alkohol... Aber! ohne Frau?.. Nie ist es mir früher eingefallen, daß es Länder gibt, wo man eine Frau auf der Straße nicht ansprechen darf, wo Flirten verboten, wo die Verhüllung zur Staatsideologie geworden ist. Man bewacht uns. Man paßt auf. Und dieses Land ist so kahl, so fremd, hier gibt es kein Versteck. Nach der Arbeit gähnt einem das Hotel seine Leere entgegen - trostlose, verdreckte Gänge und das Zimmer mit Ucho in seinem Bett... Ucho ist Pilot - mein bester Freund hier, doch wir verlieren langsam den Kontakt zueinander. Er fliegt vormittags, ich fahre erst nach dem Mittagessen in die Nachmittagsschicht. In der restlichen Zeit schlafen wir. Man muß schlafen, sonst dreht man durch. Bis gestern war es so... Heute haben sie hier im Hotel eine Gruppe von Gastarbeiterinnen einquartiert - Krankenschwestern für das neue Krankenhaus hinter dem Suk. Frauen aus einem Land, das sich nach dem großen Krieg mit unserem Land verbrüdert hatte. Die Hälfte von dem, was sie auf den Fluren und im Eßzimmer zwitschern, verstehen wir sogar - nur so wenig haben sich unsere Sprachen in ich-weiß-nicht-wieviel Jahrhunderten voneinander wegentwickelt. Unsere Stammesschwestern! Oh, Gott, wie ist es nur? Nachts neben jemandem zu liegen, in die Dunkelheit des Zimmers alle Geheimnisse des Tages zu flüstern... deinen Atem zu hören! Du! wohnst im Zimmer gleich gegenüber, gemeinsam mit drei anderen. Bei deiner Ankunft bin ich mit dir im Aufzug gefahren. Deine Levis-Röhren eingeengt zwischen zwei Koffern, dein Gesicht nur einen halben Meter von dem meinen entfernt. Dein strohfarbenes Haar ist so fein, so leicht, daß es unter meinem Atem fast wegflog - Altweibersommer. Du bist nicht braun wie wir, gerade angekommen, aber schon sprießen dir die Sommersternchen überall im Gesicht... Ach Mädchen, du wirst hier leiden müssen unter der bösen Sonne... Die Teile deines Körpers sind mir plötzlich in dem engen Raum wie einzelne Lebewesen vorgekommen - ich bin nicht fähig gewesen, deine Ganzheit zu erfassen. Nur eine Stunde mit deinem Arm verbringen zu können... Nur eine Stunde! Dein Arm ist nackt, abgegrenzt von dem Rest des Körpers durch den Ärmel des weißen T-Shirts, zart, nicht muskulös - nur mit Fingerspitzen möchte ich die weiße Haut berühren... Die nackten Zehen in den Ledersandalen - jeden einzelnen in den Mund nehmen und... zehn Stunden Glück. Um deinen Hals, deine Lippen, dein Gesicht zu erforschen, würde ich länger brauchen. Ja, viel länger... länger, als man dem Leben abtrotzen kann. ...und das Verborgene? Über deine linke Schulter hing eine kleine Ledertasche, die plötzlich zu Boden rutschte. Du hast dich gebückt... aus der Schutzhülle des weißen Stoffes blitzte vor meinen Augen ein Streifen weißer Haut, nur ein Streifen, ein Stück deines Bauchs, aber... für eine Sekunde mehr würde ich zehn Jahre geben. Sicher benutzt du kein Parfüm, ich habe nur dich gerochen und du... hast geduftet! In unserem Stockwerk hast du mich angelächelt. Trotz deiner Proteste habe ich die beiden Koffer gepackt und sie auf dein Zimmer geschleppt. Der Aufseher saß auf seinem Platz neben dem Fahrstuhl, die Maschinenpistole auf den Knien, rauchte, blickte uns nach. Dann war ich wieder allein. Ich liege in meinem Bett. Jetzt ist es vorbei mit dem Schlafen! Dein Lächeln! Lächeln, Lächeln, Lächeln... Zeit zum Mittagessen. Die Krankenschwestern sitzen unweit von mir. Du nickst mir zu. Lächeln! Der verschwitzte Bus fährt mich auf den Flugplatz. Die Stunden bis zum Abend! Ein Treibstoffexperte, der unter den tonnenschweren Sonnenstrahlen einen fünfzehn Meter langen Schlauch schleppt und Flugzeuge mit Kerosin abfüllt. Die Hitze aus den Düsen der Maschinen kann ich von dem heißen Wind der Wüste nur dem Gestank nach unterscheiden. Was für ein Wunder! - Ucho schläft noch nicht, als ich ins Hotel zurückkomme. Wir gehen zusammen zum Abendessen. Heute sind wir die letzten... doch nicht, du kommst in den Speisesaal gelaufen, nimmst dir einen vollen Teller von der Theke, ein Stück Chobza aus dem Korb und kommst an unseren Tisch. Die anderen Tische sind schon aufgeräumt. Wir machen Platz für dich, versuchen, uns in der sehr weichen lustigen Tantesprache einzufinden. Du bringst uns zum Lachen - manche deiner Wörter hat man bei uns im Mittelalter benutzt, manche der unseren klingen wieder in deinen Ohren altmodisch. Wir lachen zu dritt. Du springst vom Tisch auf, du mußt ins Krankenhaus, zur Nachtschicht. Ich und Ucho gehen schlafen. Wann wache ich endlich anderswo auf? Diese Sonne!.. Ucho ist schon weg. Ich frühstücke im Zimmer, schreibe Briefe - an alle Frauen, die ich je gekannt habe, alles, was ich ihnen je sagen wollte - die Briefe werde ich sowieso nie abschicken. Ich muß schreiben. Schreiben ist die Alternative zum Schlafen. Die Sätze vertreiben die dumme Wirklichkeit, ich streiche nicht mehr, lese nicht nach, schreibe, schreibe - die Erinnerung verkauft sich schamlos an den gierigen Fälscher in mir, der aus ihr den Saft saugt und die Reste in die Gossen des Gehirns spuckt. Die Geschichten verselbständigen sich auf dem Papier - wie in einem Hyperzyklus kurbeln die Erzeugnisse meines Hirns ihre eigene Produktion an, und alles dreht sich immer schneller in diesem teuflischen Kreis. Die Gedanken mutieren nicht, alles wirbelt nur um das eine... Ich laufe unter die Dusche, ein Chaos aus Gesichtern und Körpern hinter den geschlossenen Lidern... und plötzlich landen meine Erinnerungen an einem Attraktor - es verdichtet sich zu einem einzigen Bild ...das Gesicht im Aufzug. Deine kleine Hand?.. Für ein paar Minuten erlöst... Mein Finger malt ein Graffiti auf den Sandfirnis des Kasettenrecorders, aus dem Dylan seine Sehnsucht nach Sarah in die Hitze des Hotelzimmers herausschreit. Ich lege mich aufs Bett, schließe die Augen - die Songs rufen die alten Träume herbei... knock', knock', knocking on heaven's door... Es klopft. "Ja!" An mein Himmelstor klopft der Engel von innen. Ich entschlüssele dein: "hallo, ich bräuchte ein bißchen Waschpulver. Hast du welches da?" Diese Sprache! Diese göttliche Sprache! "Ja, klar! Sicher! Komm rein." Du schließt die Tür, wagst dich weiter ins Zimmer, obwohl der Kachelboden mit drei Eimern Wasser überflutet ist - meine Abwehr gegen die aufsteigende Hitze. Ich wate zum Spülbecken, neben dem wir in einem Schrank unser Chemiedepot haben. Die Tür des Zimmers geht noch mal auf, diesmal ohne Klopfen - der da ist kein Engel. Der Wachhund erklärt mir, ich solle die Tür auflassen. Er geht zu seinem Stuhl neben dem Aufzug, behält uns im Blick. Du schaust mich an, verdrehst die Augen, verstehst zwar seine Worte nicht, wohl aber die Gesten. Ich zucke mit der Schulter. "Wie lange bist du schon hier?" fragst du. "Fast ein Jahr, ohne Urlaub." "Jessesmaria..." Ich will wissen, wie du heißt. Du trägst den Namen der Hauptstadt deines Landes. Ich werde dich aber heimlich Ada nennen. Du nimmst das Pulver, willst rausgehen, dein Blick fällt auf die umgestoßenen Figuren auf dem Tisch zwischen den Betten. "Spielst du Schach?" "Ja", sage ich, "du auch? Wollen wir zusammen spielen?" Ich stottere etwas, muß die Frage noch mal wiederholen, bis du sie verstehst. Du lachst. "Okay. Heute ist Donnerstag. Morgen machen wir einen Ausflug, nachts bin ich im Krankenhaus... Samstag vormittag?" "Klar, klar doch. Samstag vormittag", antworte ich schnell, bevor du es dir anders überlegst. Die Tür geht zu, ich lege mich wieder aufs Bett, träume. Freitag ist frei. Ein Tag pro Woche frei. Ich fahre mit Ucho und ein paar anderen Freunden ans Meer, am Strand läßt's sich auch schlafen. Die Einheimischen - Frauen, Kinder, Männer - schlagen hier Zelte auf, baden in ihren weißen breiten Hemden und Hosen, grillen auf offenem Feuer ihren Freitagshammel. Abends im Hotel werkelt Ucho mit der TV-Antenne, versucht die Wellen, die zu uns übers Meer kommen, für ein paar kostbare Minuten zu zähmen, das nackte Fleisch aus billigen Softporno-Filmen für einige Augenblicke auf dem Bildschirm festzuhalten, aber die nackten Schenkel und Brüste entziehen sich schon nach ein paar Sekunden schamhaft unserem Blick, machen sich unauffindbar im Karneval des rauschenden Frequenzhimmels. Ich blättere die importierten Zeitschriften durch. Die Normalität der anderen Teile der Welt wird auf jedem Blatt mit schwarzer Tinte bestraft. Wenn eine Politikerfrau, eine Schauspielerin, Sängerin, eine öffentliche Frau, ihr weit ausgeschnittenes Dekolleté, ihre entblößten Beine über die gesamte Seite ausbreitet, so daß Schwärzen zu aufwendig wäre, werden die Blätter gnadenlos zusammengeklebt. Uns bleiben nur die Gesichter, die Ahnung der Körper, aber, obwohl ich von ihnen jetzt so wenig sehe, weiß ich endlich: Alle Frauen sind schön. So erfährt man mit fünfundzwanzig die älteste Weisheit der Welt. Könnte ich doch jetzt nur das sehen, was ich früher nicht beachtet habe! Nur sehen! Du kommst - weiße Jeans, weiße Bluse mit kurzen Ärmeln. Die Tür bleibt offen, du sitzt auf Uchos Bett, ich auf meinem, der Tisch mit dem schwarzweiß karierten Brett zwischen uns. Wir stellen die Figuren auf. Der Wächter draußen klappert mit seinem Stuhl, bis ihm die neue Position eine gute Aussicht bietet. Du lachst, "um was spielen wir?" "Der Verlierer muß dem Gewinner ein Geschenk machen. Ein Geschenk, das er selbst bestimmt. Halt ein Geschenk." "Okay", sagst du, "aber erst nach sechs Spielen. Jeden Vormittag eins, bis zum Donnerstag?" "Gut." Ich nehme eine schwarze und eine weiße Figur in die Hände, lasse dich auswählen. Weiß. Du beginnst. Bauer auf E5... Deine Finger tänzeln auf dem Schachbrett wie auf einer Klaviatur. Du bist sehr gut, es wird nicht so leicht werden. Jesus, du bist verdammt gut. Aber... ich muß gewinnen. Was wirst du mir schenken? "Schach", sagst du, schnappst dir einen meiner Bauern, dabei wirfst du den schwarzen Springer um. Beide greifen wir nach der Figur, unsere Hände stoßen einander. Zufall! Ein klarer Zufall! Der Springer kullert über den Tisch, fällt runter. Ich beuge mich vor. Der schwarze Springer neben dem nackten Fuß, dem weißen Fuß. Der Tischschatten schafft hier unten eine merkwürdige Intimität: Nur deine Füße, meine Augen und... der Springer. "Kannst du die Figur nicht finden?" höre ich von oben. "Dddoch!" Ich richte mich auf. Du siehst mich an, lange... Ein komisches Gefühl durchfährt meinen Körper. Kribbeln? Weiß nicht. Schon ist es vorbei. Ich halte den Blick nicht aus, nein, keine Angst vor dir, ich... Ich blicke in den Gang. Auch ein paar diebische Augen. Mein König weicht aus. Dein Springer springt, du sagst: "Matt." Sonntag! Bevor du kommst, setze ich mich in den Lotussitz, atme... Du versuchst dich in mein Gehirn zu schleichen, doch mein Atem führt mich unbeirrt weg von dir. Dein Gesicht, dein Bauch, deine Füße verblassen... Da bin ich! Dann bist du wieder da. Wir spielen. Ich kombiniere, denke in Zügen. Du drängst dich manchmal vor in meine Gedanken, ich verjage dich nicht, lasse dich gehen, kehre zurück zu den Schachmustern in meinem Kopf. Gewonnen! Eins zu eins. Noch vier Spiele. Montag! Ich konzentriere mich wieder. Aber du kommst direkt aus der Dusche, das Haar noch feucht, der Duft der Seife, dein Duft über dem Brett. Deine Frische ist ein mächtiges Makyo... Zwei zu eins für dich. Abends wartet Ucho auf mich vor dem Hotel. "Komm, gehen wir ins Kino." "Was schauen wir uns an?" "Na, was schon? Gibt's hier was anderes als Kung-Fu- und Karate-Filme?" Sie spielen Todesgrüße aus Schanghai mit Bruce Lee. Ich erwarte wieder einen dieser dämlichen Schlägerei-Schinken, doch der Held ist ein Könner, ein Meister. Alle Achtung! Bei dieser Körperakrobatik vergißt man die dürftige Story. Danach trinken wir den dickflüssigen Tee in einem Teehaus, wo alte Männer in Weiß an ihren Wasserpfeifen paffen und dazu die dunkle bittersüße Flüssigkeit schlürfen.Ich verspüre Lust, Ucho alles zu erzählen, mein Herz meinem besten Freund auszuschütten, über Ada, aber etwas hält mich zurück, etwas verklemmt meine Zunge. So nicke ich nur mit dem Kopf, als Ucho sagt, "Scheißland!" Am Dienstag setze ich mich gleich hin, in meine Ecke, nachdem Ucho in die Arbeit gefahren ist. Ich meditiere zweimal eine halbe Stunde mit einer kleinen Pause. Beim zweiten Sitzen löst sich mein Körper plötzlich auf, nur der Atem schwingt wie eine Welle durch den Raum, rauf und runter... der Atem bin ich! Dann thronst du auf Uchos Bett. Ich spiele nicht, ich bin das Spiel. Zum Schluß berühren sich wieder unsere Hände... Zu spät - habe schon gewonnen: Zwei zu zwei. Noch zwei Spiele, doch schon morgen wird alles entschieden. Ada, ich muß gewinnen! Ada! Schenkst du mir das, woran ich in den langen Nächten denke? Mittwoch! Ich mache wieder meine Übungen. Auch diesmal scheint es ein leichtes Unternehmen zu sein, heute werde ich dich schlagen, Mädchen... Verdammt! Da sind sie! Die trojanischen Pferde der Gedanken! Unbeirrt mischen sie sich unter meine Schachkombinationen. Ich reiße mich zusammen, zurück zum Spiel. Wenn man an Sieg denkt, hat man schon verloren... Wer hat es gesagt? Wer?.. Zurück zum Spiel. Heute wird's doch etwas schwieriger, warum kann ich mich nicht konzentrieren?... Zurück zum Spiel. Jetzt weiß ich, warum ich mich nicht sammeln kann: Spüre die Nähe deines Beines unter dem Tisch. Und dann beugst du dich vor ...die Rochade - dein Bein berührt das meine. Du lehnst dich zurück, dein Bein bleibt bei mir wie ein Pfand des Gewinns. Du schaust mich wieder mit deinem seltsamen Blick an. Meine Augen schweifen zu dem Wachhund im Flur. Die Tür ist wie immer offen. Die Maschinenpistole auf den Knien, sitzt er da, raucht - der Hüter der Unschuld? Soll ich jetzt aufstehen, dich küssen, mir eine Ohrfeige holen und mich dann einsperren lassen? Wie würden mich meine Arbeitgeber für einen kleinen Kuß bestrafen? Müßte ich in eins dieser Gefängnisse, wo man über die Nacht ein alter Mann wird? Ich konzentriere mich wieder auf das Brett, und auf einmal sehe ich das Unglück, das nicht mehr zu vermeiden ist. Nicht, wenn du es auch siehst. In vier Zügen bin ich dran. Ich möchte dich hypnotisieren, deine Gedanken vom Spiel wegleiten, aber du bist eine Zen-Meisterin des Schachspiels, führst mich bedenkenlos Zug um Zug in die Falle. Nach dem vierten sagst du, "schach und matt!" Drei zu zwei für dich. Die Schlacht ist verloren - nichts bekomme ich von dir... nichts! Donnerstag spiele ich lustlos. Könnte zwar noch das Remis erringen, aber was bringt es mir? Heute bist du bemerkenswert schlecht. Drei zu drei. Du stehst auf, schon wieder verliere ich dich, und morgen? Ach, morgen ist doch Freitag, ich werde mit den Leuten aus der Arbeit unterwegs sein. "Könnten wir nicht am Samstag weiter spielen?" frage ich, wage nicht zu atmen, bevor du antwortest. Du gehst zum Waschbecken in der Ecke des Zimmers. Nur mich bewacht jetzt der Wächter auf dem Flur. Du zupfst dein Leinenhemd vor dem Spiegel zurecht, draußen regnet's. Ich warte, blicke vom Fenster zurück zu dir. Du drehst dich um. Das Hemd hast du aufgeknöpft, öffnest es. Deine Brüste hängen etwas durch, schwer, schüchtern mit ihrer Fülle deinen zierlichen Bauch ein - oder nehme ich die Proportionen verzerrt wahr? Dein Nabel... - meine Zungenspitze fühle ich von der kleinen Bauchvertiefung eingefangen. Automatenhaft gehorcht mein Körper dem Gefühl - der Mund geht auf und die Zunge regt sich... Der Wächter neben dem Aufzug atmet laut durch die Nase ein, räuspert sich und spuckt auf den Boden. Vorbei! Du zeigst mir wieder den Rücken, knöpfst das Hemd zu. Sagst, "ja, wir werden spielen. Aber erst am Sonntag. Vorher geht's nicht." An der Tür schaust du dich um. Der Freitag kommt mir lästig vor - ein Ekzem auf dem schönen Körper der Woche. Noch zwei ganze Tage, bevor ich dich wieder sehen darf. Ucho besucht heute seine Kollegen, die Piloten. Wir vom technischen Dienst besichtigen eine verlassene Siedlung am Meer. Eine Stadt, die seit zweitausend Jahren leer ist: Amphitheater, Paläste, Häuser, Kanalisation, alles halb verweht im Sand - menschenleer. An die lebendige Gegenwart erinnern nur die kopflosen Marmorstatuen - man hat sie bei der Kulturrevolution vor zwanzig Jahren verstümmelt. Ohne Köpfe stören die Skulpturen nicht mehr, so gefallen sie den Menschen, die sich anmaßen, den Willen Gottes zu kennen. Wir bummeln durch eine Stadt der Marmorzombies. Ich schlafe bei einem Freund in einem Containerdorf, unweit der Hauptstadt. Samstag nachmittag fahre ich von dort in die Arbeit. Den Brief bekomme ich von unserem Chef - er ruft mich zu sich. "Ihr Zimmergenosse wurde nach Hause abgeschoben." Der Kommandant schaut auf seine Uhr, "jetzt sitzt er schon im Flugzeug. Er hat auf grobe Weise die Gastfreundschaft dieses Landes mißbraucht. Das hat er für Sie dagelassen." Über den Tisch reicht er mir einen weißen Umschlag. "Was ist eigentlich passiert?" frage ich. "Tja, die Hotelangestellten haben ihn gestern in der Nacht erwischt - mit einer Ausländerin im Bett. Man hat auch sie nach Hause geschickt." Und dann,.. dann nennt er deinen Namen... Ich sitze auf einer Klippe, draußen vor der Stadt. Die Flut kommt. Auf dem weißen Umschlag steht nur mein Name. In fremder Handschrift. Ucho schreibt anders. Ein verklebter Umschlag im Reißwolf meiner Hände. Die Papierstücke flattern in dem warmen Wind, fallen ins Wasser, werden weggeschwemmt... wie ihr beide. Zu den Personalien Zurück zum Inhalt von Heft 17 Zurück zur Startseite Wandler |