Fritz Mühlenweg

Fremde auf dem Pfad der Nachdenklichkeit


Aus dem gleichnamigen Buch im Verlag Die Libelle, CH-Bottighofen, 1992. © für den Text bei den Geschwistern Mühlenweg. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Kein Lüftchen regte sich. Wir waren allein auf der weißen Hochfläche, und es war wie an einem der beiden Pole, wo alles eben und weiß ist, weil dort die Welt ein Ende hat. Wir sammelten immer noch Schnee, aber es war wenig, und das Wenige schwand unter den Händen. Die Erde sog es auf oder die Luft, vielleicht sogar die Steine. Man sah nicht, wohin es geriet, es war ein Hauch, der schwand. Ich hob den Blick und schaute nach Westen.

"Wir sind nur ein kleines Stück gegangen", sagte ich, "wir müssen uns besser anstrengen."

"Wieso?" wollte Pantje wissen.

"Weil man sonst sehr hohe und sehr große Berge sehen müßte, die Karlyk-tag heißen."

Zuerst schien mir bloß, der Schnee in der Ferne sei ein bißchen weißer, nachher sah ich, daß die Horizontlinie bewegt war, und dann erkannte ich, daß es Berge waren. Da war aber der Schnee um uns verschwunden. Die Steine waren wieder grau, der Staub des Pfades wurde weiß, und nur da, wo ein größerer Stein lag, schimmerte noch ein Fleckchen Schnee.

Doch nun hatten wir ein Ziel vor Augen. Ich zog die Karte aus der Tasche, und ich maß die Entfernung noch einmal. "Von diesen Bergen", sagte ich zu Pantje, "kommt ein Fluß. Wir müssen ihn morgen erreichen, denn es sind bloß zweihundert Li, wahrscheinlich sind es weniger."

"Und der Brunnen "Tagwasser"?" fragte Pantje seufzend.

"Er liegt dazwischen", antworte ich, "wenn wir rascher gehen, sind wir zu Mittag dort. Mut!" sagte ich, "der Himmel hat uns Schnee beschert."

Wir machten uns auf, und den Vormittag über gingen wir besser. Fast schien es, als ob wir die üblichen vier Kilometer, die eine Karawane im Durchschnitt zurücklegt, hinter uns brächten. Dann aber zweifelte ich daran. Obgleich wir während der Nacht nur geschlichen waren, hätte der Brunnen hier irgendwo sein müssen. Zum Schluß zweifelte ich auch an der Karte. Woher sollte in dieser Kiesebene Wasser kommen? Sie nahm kein Ende, nirgends gab es einen Hügel, es gab nur den Weg, an dessen Rand wir uns wortlos niederlegten, sobald die Uhr die Stunde wies. Jedesmal kämpfte ich mit dem Schlaf, den ich bisher Pantje allein überlassen hatte. Bis zum Brunnen "Tagwasser" wollte ich durchhalten.

Am frühen Nachmittag bat mich Pantje um eine Stunde Rast. Auch wenn er den besten Willen hätte, und er habe ihn, sagte Pantje, so vermöge sein Wille nichts gegen das Unvermögen der Beine.

"Ich weiß", sagte Pantje, "diese meine Rede ist nicht gut zu hören, aber Weitergehen ist ein Ding, das ich nicht mehr zuweg bringe. Ich bin ein Mongole."

Ich sagte: "Das ist mir bekannt."

"Eine Stunde Schlaf", bettelte Pantje.

Er zog die Füße aus den Stiefeln, und er wies auf die großen Blasen zwischen den blutverkrusteten Zehen und auf die wunden Stellen am Hacken. Ich hatte auch welche, und ich sagte es Pantje.

"So wollen wir beide schlafen", schlug er vor, "in der Sonne liegen und schlafen ist besser als hinter Felsen stehen und frieren."

Ich widersprach noch einmal, aber es war schon nicht mehr ernst gemeint. Pantje merkte das. Er breitete einladend das Schaffell aus, und er behauptete, daß Schlafen nicht nur eine gute, sondern eine vernünftige Sache sei. Er sprach leise und heiser, aber er redete in einem fort.

"Sieh dir diese Gegend an," sagte er, "und betrachte die Sonne, Dandjat. Die Gegend ist wie zum Schlafen gemacht, und die Sonne scheint warm. In einer Stunde wird die Wärme wieder kalt werden, und wir werden von alleine aufwachen. Dann werden wir marschieren, wie du es haben willst, und wir werden es besser tun können als jetzt."

Ich willigte ein. Ich sagte "Bolna!" und ich schaute nach den fernen Bergen, die meine Karte als Viertausender bezeichnete. Sie sahen gar nicht so aus. Dann räkelte ich mich in der warmen Sonne. Der Gedanke, wie gewaltig wir in der kommenden Nacht marschieren würden, befriedigte mich vollends, und ich schlief neben Pantje ein.

Kurz vor Sonnenuntergang wachte ich auf. Ich hatte nichts anderes erwartet, aber schlimm war es doch. Wie sollten wir den Brunnen "Tagwasser" in der Nacht finden, wenn es überhaupt einen gab! Ich weckte Pantje auf. Er murmelte betrübt, und er schüttelte den Kopf auf dem Schaffell. Er war schwer in Gang zu bringen. Das machten die wehen Füße. Weil ihm das Aufstehen Schmerzen bereitete, nahm ich mir vor, ihn von jetzt an zu betrügen und statt einer Viertelstunde nur zehn Minuten zu rasten, wenn die Zeit dazu gekommen war. Wir aßen ein ordentliches Stück Hammeltalg, und dann begannen wir die Wanderung.

Die Sonne sank langsam; es war herrlich wie am ersten Schöpfungstag. Eine fürchterliche Kälte machte sich breit. Die Erde war wüst und leer und grau, und die Sonne färbte sich rot. Wir waren noch keine zehn Minuten unterwegs, als sie den Horizont berührte.

Ich hatte weiter nicht auf den Weg geachtet. Ich hatte in die Sonne gestarrt, und ich war erstaunt, als Pantje mich anrief. Vor uns senkte sich plötzlich der Weg. Wo vorher nichts gewesen war, gab es auf einmal einen kiesgefüllten Einschnitt, ein ehemaliges Flußbett also. An den Rändern des Grabens lag Sand, und gegenüber, hundert Meter entfernt, erhob sich die andere Böschung. Dann war alles wie vorher. Die Ebene lief weiter, und die Sonne sank.

Als ich auf den dunklen Talgrund blickte, sah ich dort den runden, leuchtend grünen Sonnenreflex. Eigentlich wollte ich nach dem Weg schauen und ob er nirgends eine Abzweigung zu einem Brunnen machte, aber dann ließ ich es bleiben. Das würde Pantje besorgen. Ich schloß die Augen, und ich überließ mich dem herrlichen Spiel, die smaragdgrüne Sonne auf dem feurigroten Grund der geschlossenen Lider zu betrachten, bis das Rot dunkler werden und das Grün erlöschen würde. So weit kam ich aber nicht. Ich sah, daß in der grünen Scheibe etwas Schwarzes steckte, das aussah, als ob es sechs Uhr wäre, wenn großer und kleiner Zeiger sich zu einer Geraden vereinen und das Zifferblatt in zwei Hälften teilen. Das Phänomen war mir neu. Ich hatte die Sonne hinter meine Lider genommen, als sie eben den Horizont berührte, und jetzt war ein zittriger schwarzer Strich in dem Bild. Ich öffnete die Augen. Da war die Sonne zu einem Viertel in die Erde gesunken, und ich sah, daß in ihr ein dünner Gegenstand steckte. Ich wollte es Pantje sagen, aber Pantje begann gleichzeitig von seinen Beobachtungen zu sprechen. Da die Verständigung darunter litt, vertummten wir beide.

"Du sollst reden", sagte ich.

"Sprich du", sagte Pantje höflich.

"Es gibt nichts, das einer Erwähnung wert wäre, ich sah bloß einen Ast."

"Der Weg geht nicht nach links und nicht nach rechts", seufzte Pantje, "er geht geradeaus. Hier gibt es kein Wasser."

"Stell dich auf meinen Platz", lud ich ihn ein, "und schau in die Sonne. Siehst du den Ast? Oder ist es ein Zweig? Oder ist es ein Pfahl, wie man ihn für den sprechenden Draht in die Erde rammt?"

"Es wird eine Tamariske sein", meinte Pantje, "Pfähle sind dicker."

"Merke dir die Richtung", sagte ich, "wir wollen nachsehen."

In Eile überquerten wir das trockene Flußbett.

"Tamarisken gibt es hier keine", belehrte ich Pantje, "es muß was anderes sein. Hast du die Richtung behalten?"

"Kein Besorgnis deswegen", sagte Pantje, und ich wußte, daß ich mich auf ihn verlassen konnte.

Als wir die jenseitige Böschung hinaufgeklettert waren, verschwand die Sonne. Die letzten Strahlenbündel schossen über die Ebene, einige stiegen senkrecht in den Himmel, die fernen Berge leuchteten rot, aber auf alles das achtete ich nicht. Mir war nur noch der Ast wichtig, oder der Bengel, oder was es sonst sein mochte. Ich sah ihn auch bald, und dann brauchten wir nicht mehr weit zu gehen, da standen wir am Rand einer Senke. Sie war rund wie ein Krater, und da, wo wir sie erreichten, kam ein dicker Ast aus dem Boden und daneben einige dünnere. Miteinander bildeten sie die vom Sturm mitgenommene Krone eines kümmerlichen Baumes, der in einer Falsspalte Wurzel geschlagen hatte und zur Hälfte über den Rand des Kraters ragte. Da wir an der steilsten Stelle auf dem Felsen standen, lag die runde Senke offen vor uns. Wir sahen, daß sie mit Sand gefüllt war und daß es nirgends Spuren gab; bloß was unter uns war, vermochten wir nicht zu sehen.

"Horch!" rief Pantje plötzlich. Er war ganz verändert vor Freude.

Er schrie "Wasser!" und dann rannten wir dahin, wo der Boden eingesunken war und einen Zugang in den Krater freigab. Der Sand lag tief. Wahrscheinlich hatte ihn der Sturm der vergangenen Nacht mit vollen Händen in das Erdloch geworfen; aber bis an den Felsen reichte er nicht. Dort gab es einen überhängenden gewaltigen Stein, von dem auf den darunterliegenden ein steter Tropfen fiel. Einer folgte dem andern, und wenn es mehrere waren, verdrängte der nachfolgende den ersten, der dann ein Stückweit an dem Stein entlanglief, bevor er fiel. Die Tropfen machten eine herrliche Musik, und sie hatten eine Rinne ausgehöhlt, die voll Wasser war und überlief. Wir brauchten uns zum Trinken nicht einmal auf den Bauch zu legen, wir mußten uns bloß bücken. Zuerst tranken wir die flache Rinne leer.

"Wie die Kamele", sagte Pantje.

Nachher tranken wir auch den verwässerten Kognak, damit die Feldflasche leer wurde.

"Hier ist "Tagwasser"", sagte ich, "nun sind es bis zum Fluß bei Taschbulak nur noch einhundertzehn Li oder einhundertzwanzig. Wir sind nicht verloren."

"Dein Geländebild ist ein ausgezeichnetes Geländebild", lobte Pantje.

Ich war so stolz, als ob ich es selbst gemacht hätte. Zwei Stunden verbrachten wir an dem Brunnen "Tagwasser". Die Tropfen fielen in die Feldflasche, die ich zwischen Steine eingeklemmt hatte, damit ich sie nicht zu halten brauchte. Wir saßen daneben, rauchten brüderlich eine Zigarette , und wir hörten zu, wie die Tropfen fielen. Dazwischen sagten wir uns, wie glücklich wir waren. Dann aßen wir das letzte Stückchen Hammeltalg, und als der Mond kam, warteten wir, daß der hohle Stein sich wieder füllen würde. Wir tranken ihn noch einmal leer und dann noch einmal. Das Wasser war herrlich und sehr kalt.

Ich rief: "Jabonah!", und Pantje wiederholte das Zauberwort fröhlich. Dann zogen wir in die Nacht hinaus, und auf dem Weg, der dünn und weiß vor uns herlief, gingen wir Stunde um Stunde. Die fernen Höhen des Karlyk-tag waren im Dunkel und im Licht der Sterne versunken, und erst beim Morgengrauen erhoben sie sich über den Rand der Ebene.


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