Hermann Kinder

Bodenlossehen

Ein Kapitel aus dem Roman " Ins Auge", Haffmanns 1987

Fiel. Falle. Werde fallen. Auf zum Mars und hinab in den glühenden Kern der Erde. Aus der leichten Luft fällten sich die Schreie aus, sinterten die Seufzer. Nichts war verweht, alles, was je gestöhnt worden war, knallte durch den Sturm wie Dachpfannen. Ich stieß mir den eingezogenen Kopf bunt an den unerhörten Hilferufen. Und ich fiel. Der Beton verbrodelte. Die fruchtbare Krume zeigte zerstaubend, was sie war: den Siebsatz der Kadaver. Die formten sich zurück. Überall sah ich die Toten. Alles Feste weichte zur Mordsee aufgehobener Zeit. Nichts mehr gnädig bedeckt. Offenbar, was einmal gewesen und in den Boden eingegangen war, der mir die Standfestigkeit entzog. Ich fiel und sah. Ich lief knietief, brusttief, scheitelhoch durch geköpftes Leben. In Wimmern löste sich die Erde auf unter den Augen für das Bodenlose. Schicht um Schicht bildete die Kulturkleie wieder aus: vom Leben zum Tode gebrachtes, erschossenes, umgehauenes, aufgefressenes, gefleddertes, zu Boden geschleudertes, verscharrtes Leben. Und obenauf - wie sie sich drängelten um Thron und Altar, die auf der Blutsuppe schwankten. Auf A folgte B, auf B folgte C, und nachdem D C hatte meucheln lassen, wurde er von E gemeuchelt, woraufhin F E meuchelte, dem folgte G, dem folgte H, den schuckte I vom Stuhl, den trat J in den Staub, ich sah sie glanzvoll aufgebahrt im zeitlosen Aspik, sah den Boden mal höher mit den Rötgenaugen, mal niedriger, ununterbrochen in Bewegung im Gescharrel und Geschiebe des Zeitgerölls, ich schlierte hoch, schmierte ab ins Wellental, auf dessen Krone sich K einrichtete, der nach mir haschte, der mich an den Augen schnappte, die zog er mir aus dem Kopf, daß sie lang und länger wurden, daß sich die Sehnen spannten wie das Gummi einer Zwille, bis ich auf und meinen Augen hinterher gesaust wurde, als L eine neue Anschauung befahl, die M verdammte als Irrlehre, worauf N oben den Überblick diktierte, so jojoten sie mich an meinen treuen Augen hinauf, hinab, die sie fest in Händen hielten, derer sie sich bedienten, wie es ihnen am lukrativsten schien, das Gesindel der Macht schnalzte uns auf zur rechten Sicht der Dinge, tunkte uns nach Belieben den Schädel auf den harten Boden ihrer Tatsachen, schnippste uns hinunter als Schädlinge an ihrer Weltschau, so tanzten wir mit den Augen, deren die Herren Herr waren, auf der Fontäne von Blut und Geschrei auf und ab, und die, die jetzt oben saßen schlugen denen, die sie verdrängt hatten, die Hirnschalen ab und traten lässig an den Brunnen, in dem so rilkeschön von Schale zu Schale das Leben ihrer Untertanen verschäumte, und füllten sich die Schädelschälchen, sich sieghaft eins zu schlürfen. Ich sah aber die Formen des Staubes der Feinde Brandenburgs, ich sah die Seelen in den wiederverklumpten Körpern verrotteten Lebens, vergangenen Leids, denn sie waren nicht aufgeflogen, erlöst - eine Lüge der Herrschaften sind nur solche Versprechen -, sie lagen noch immer im Dreck und schrien.

Ich sah im Staub vor den Monumenten in der sengenden Sonne die Reste bleichen von hunderten Menschen, die geschunden worden waren vom neuen Gesetz. Ihre Arme sind noch mit Kabeldraht zusammengebunden, sie liegen durcheinander und übereinander neben den Stöcken und Stangen, mit denen sie von den Soldaten zu Tode geprügelt worden sind. Mit halbgeschlossenen Augenlidern lächeln von oben die steinernen Gesichter der Gott-Könige, Dickbäuche und Schinkenköpfe, unentwegt nieder auf die Menschen, die so dämlich sind zu glauben, in der Geschichte gäbe es einen Fortschritt zum Besseren. Die Frauen finden in den Brunnen kein Wasser, die Brunnen sind verstopft mit Leichen. Die Männer wollen die Felder pflügen und graben Skelette aus. Sie klauben die Schädel aus den Furchen und werfen sie zu einer Pyramide zusammen. Wer dick ist, ist ein Schmarotzer und wird hingerichtet. Wer dünn ist, ist ein Defätist und wird hingerichtet. Und alle, die zu feige sind, weder dick noch dünn zu sein, werden hingerichtet. Immer fanden die wechselnden Herren einen guten Grund. Die Soldatenwitwe Marianne Kürschner hatte sich, um die Fahne nicht grüßen zu müssen, für die ihr Mann geschlachtet worden war, blind gestellt. Aber jemand sah, wie sie sich wegduckte vor einem vom brennenden Haus fallenden Ziegel, und lief, sich ein Bonbon zu sammeln, zur Staatspolizei. Marianne Kürschner widerstand den Proben ihrer Blindheit. Da stopfte die Staatspolizei Marianne Kürschner in eine Bottichzelle, die kein Liegen oder Hocken gestattete, daß die Kürschner im Kot ihrer Vorgefangenen stand. Und Deckel zu. Nach neun Tagen reichten sie ihr stumm ein Wasserglass. Die blinde Kürschner sah es und griff danach und wurde hingerichtet. Ich sah sie. Sie lachte nicht. Und dem Boden entstieg der Bauer, der von seinem König ergriffen worden war: Du arbeitest zu langsam. Du mußt bestraft werden. Herr, flehte der Bauer, meine Augen sind trübe geworden. Da ließ ihn der König bis zum Hals in den Boden eingraben und setzte dem Bauern einen Topf Wasser auf den Kopf, legte Reisig darum. Und als der Bauer sah, wie der Knecht den Fidibus entbrannte, schrie er und wackelte in seiner Angst mit dem Kopf. Siehst Du, sagte der König, wenn es um Dein armseliges Leben geht, siehst Du recht gut, nur für mein Wohlergehen sind Dir die Augen trübe. Und der König hieß den Knecht, das Reisig zu entflammen. Weiter sagte der Augenzeuge aus, daß mindestens fünfzig von denen, welche die Wehrkraft zersetzt haben sollten, in den Acker eingegraben worden seien bis zum Hals. Dann sei ein Pferdegespann mit einer Egge über die Zeile der Köpfe geführt worden. Weil aber die Pferde mit ihren Hufen einem schmerzlos schnell den Schädel zertrümmert hätten, bevor dieser angeeggt hätte werden können, habe man im Dorf lange nach einem Traktor gesucht, während manche, denen man mit der Egge schon zweimal über den Kopf gefahren sei, mit aufgeritztem Schädel noch gelebt hätten und mitansehen müssen, wie der Traktor mit der Egge endlich auf sie zu gefahren sei. Von der Spitze des Tempels, auf dem man den Geweihten mit dem Steinmesser die Rippen geöffnet und das Herz entrissen hatte (Cave, cave, dominus videt), rann das Blut über die vielen Stufen zu Boden, versickerte aber nicht, ungeronnen sah ich es und das Blut der über 100 Gefangenen, die von den Regierungssoldaten in den Schlachthof der Firma Quality Meats getrieben wurden. Die maschniell abgetrennten Köpfe wurden per Lastwagen abtransportiert und zur Abschreckung aller, die zusahen, auf die Straße geschüttet. Ich habe mich versteckt. Aber ich habe gesehen, wie die Soldaten die Leute aus ihren Häusern trieben und in Reihen aufstellten. Die Frauen wurden vor den Augen der andern vergewaltigt und dann erschossen. Schwangeren wurden die Bäuche aufgeschlitzt. Allen versuchte man, bevor man sie erschoß, die Brüste abzuschneiden. Die Kinder wurden erwürgt oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein Soldat warf nacheinander zwei Babies in die Luft und fing sie mit dem Bajonett auf. Wer sich weigerte, aus seiner Hütte zu kommen, wurde samt der Behausung niedergebrannt. Die rücksichtsvoll zusammengestellte internationale Kommission sah nur noch die Flecken verbrannter Erde und fand nichts dabei. Und der, der es befohlen und gesagt hatte, es sei nicht verwerflich, einen Menschen zu töten, da seine Seele wandere, verwerflicher sei, eine Ameise zu töten, da die keine Seele habe, der ließ eine Betonpiste gießen über die verbrannte Erde und ließ sie sich segnen mit Weihrauch und Halleluja, damit seine Gönner von der Vereinigten Fruchtbringenden Gesellschaft das Handelsvolumen erhöhen könnten, denn auch demokratische Geschäfte müssen rollen bis zum Sieg. Ich sah, daß die Erde gedüngt war mit denen, die man vermahlen oder in Säure zu Jauche gelöst hatte, und ich fragte: Wie viele waren es? Einige Tausend bestimmt, doch sind wir in den Fällen, wo wir keine Schädel oder Füße zählen können, ganz auf unsichere Schätzungen angewiesen. Ich sah die Asche derer, welche die, die sich gottwohlgefällig als Götter hatten betrachten lassen, obwohl ihnen nur Gold ins Auge stach, an fromme Kreuze hatten nageln und anzünden lassen. Und ich sah die zahllosen Teile unverwest sich zusammenfügen zur siebzehnjährigen Marita, die ins Krankenhaus gebracht worden war von der Miliz. Marita war gesund und meinte guten Muts, sie solle im Krankenhaus als Schwester arbeiten. Sie gaben ihr was zu trinken. Als sie weggedömelt war, banden sie sie auf den Operationstisch und schlossen Schläuche an. Und dann sezierten sie den Unterleib Maritas von Maritas Oberleib, genau beobachtend, ab welchem Schnitt der Oberleib ohne Unterleib exitus, und die Reste zerfaserten sie messerschaft zur Übung, und ab in den Kübel und hinter das Haus, diese Hunde: Es ist fortan aus humanitären Gründen dafür Sorge zu tragen, daß die Hunde dem Klinikbereich ferngehalten werden, zumal auch die Knochen junger Menschen schwerverdaulich. Ja: Ich war seinerzeit tätig in der Asservatenkammer der Untersuchungsstelle der Wehrmacht für Verletzungen des Völkerrechts. Ja: Wir hatten auch mehrere Augen in Spiritusgläsern. Ja: Ich erinnere mich an den Fall des Soldaten Kürschner; man hat das erste Mal daneben gehauen, beim zweiten Mal mitten ins Auge getroffen und darauf das spitze Messer zwei- bis dreimal in der Augenhöhle herumgedreht und dann das Auge herausgezogen; mit dem anderen Auge ist man dann ebenso verfahren. Ja: Man hat sie festgeseilt und ihnen die Augen verbunden und gesagt, daß drei von ihnen nicht erschossen würden. Ja: Es hat etwa vier Stunden gedauert. Nein: Die Reihenfolge war nicht ersichtlich. Ja: Es sind drei übrig geblieben. Nein: Es waren dann doch nur zwei, weil einer einem Herzschlag erlag. Ja: Die übrigen zwei wurden in weiße Säcke geschnürt. Ja: Jede Minute ungefähr ein Stein. Nein: Aber ich schätze eine dreiviertel Stunde. Ja: Sie fielen nach geraumer Zeit zu Boden. Neinnein: Es war kein schöner Anblick, wie sich die Säcke langsam rot färbten, eine Art Brei, der durch die Löcher im Leinen trat. Nein: Ich habe genug davon. Nein: Nie wieder. Jawohl: Fünf Jahre und drei Jahre Gefangenschaft. Nie wieder, das haben damals doch alle gedacht. Und jetzt ist eben eine andere Zeit. Ja: In zwei Tagen 17000. Sämtliche Kleidungsstücke, die abgelegt werden mußten , wurden genau registriert, auch Brillen, Goldplomben und dergleichen, 43 Tausend Schuhe, ein gewaltiges Materialpotential, ich habe den Berg gesehen. Es können auch weniger Schuhe gewesen sein; denn die Leute kamen ja nicht aus geordneten Verhältnissen, manche kamen barfuß und zerlumpt; und auf dem Bahntransport kann auch mancher seine Schuhe verloren haben. Sie mußten ins Grab klettern. Nein: Wies grade so kam; Männer, Frauen,Kinder. Aber gewiß: Wir hatten uns das auch überlegt, ob die Lagen nicht raumsparender zu sortieren seien, aber die Zeit, keine Zeit für sowas. Sie mußten sich in der Grube aufstellen. Manche rutschten auf den Leichen der zuvor Getöteten aus. Wir schossen erst, wenn alle aufrecht standen. Nein: Mit einzelnen Schüssen, nicht MP. Ja: Das gabs auch, daß zwei auf dieselbe Person schossen. Etwa 700 Stück pro Stunde. Nein: Es war schrecklich. Wie Sie da so über Kimme und Korn den Kopf eines nackten und frierenden Menschen in der Grube über all den Leichen anvisieren, die wackelten und rutschten auf den Leichen, und warum gerade ich diese doch schöne Frau, so nackt. Ja: Es gab Simulanten. Wir mußten dann hinunter und mit der Pistole den Fangschuß. Nein: Nicht angenehm. Sie müssen über die Leiber, das Blut, die aufgerissenen Augen. Ja: Es war mir klar, daß ich im Weigerungsfalle in das Strafbataillon oder selbst nackt und in die Grube hinunter. So ein frischer Erschossener ist ja kein Brett, und manchmal gehe ich über die Straße, und es sind Köpfe, warme Bäuche, glitschige Schenkel, alles schwankt, und manchmal sehe ich in der Sauna den Rücken einer Frau und sehe, wie ihr der Karabinerkolben hineinschlägt, daß sie kopfüber in die Grube stürzt. Ja: Es gab Sonderschnaps, sonst wärs nicht gegangen. Es war Befehl, keine freudig erfüllte Soldatenpflicht. Jede Zeit hat ihre Gesetze. Man ändert doch nichts. Was hätten Sie denn gemacht? Jede Zeit fordert ihre Opfer. Gras drüber. Nein. Nein.

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