Wandler Zeitschrift für Literatur Logo No. 16

 

Dieter Lohr

Ein besonderer Tag im Leben Franckes

Bereits am frühen Morgen hatte Francke beschlossen, daß der Tag ein besonderer werden solle. Er war ausnehmend guter Laune gewesen, hatte sich ausgelassen gefühlt wie ansonsten nur selten, und um diesem Gefühl auch nach außen hin Wirkung zukommen zu lassen, seinen weißen Trenchcoat und den schwarzen Hut mit der breiten Krempe, beides Überbleibsel aus unbeschwerten Jugendtagen, angelegt, was er normalerweise höchstens zur närrischen Fastnachtszeit, eigentlich aber überhaupt nicht tat. Nach einem lässigen Blick in den Spiegel war er auf dem Weg ins Büro vor lauter Gelassenheit fast der Versuchung erlegen, am Kiosk zusätzlich zur Tageszeitung eine Schachtel Zigaretten zu erstehen, was seinem Aussehen eine gänzlich verruchte Erscheinung gegeben hätte, hatte sich dann aber doch der Tatsache besonnen, daß er Zeit seines Lebens Nichtraucher gewesen war und kraft der ungezügelten Ungezwungenheit, derer er sich heute bemächtigt hatte, auch ohne derlei Stimulanzien die 'Coolness' in Person sein würde. Im Büro selbst hatte Franckes 'Outfit' dann tatsächlich höchstes Erstaunen, bis hin zu offenem Kopfschütteln hervorgerufen, zumal als sich herausstellte, daß dem äußeren Wandel ein innerer einhergegangen war: Francke hatte den übrigen Angestellten statt dem üblichen 'Guten Morgen allerseits' ein provokantes 'Hi' gewünscht, Fräulein Stierle frivol mit dem rechten Auge zugezwinkert, die eine oder andere zotige Witzelei erzählt und sich, da das positive Echo seitens der ob solcher Ausgelassenheit völlig verstörten Mitarbeiter ausgeblieben war, mit einem lauten 'Sapperlott' hörbar auf die Schenkel geschlagen. Da jedoch auch das überschäumendste Draufgängertum Franckes sensiblen Sinn für Pflichtbewußtsein nicht nachhaltig beeinträchtigen konnte, war er den Rest des Arbeitstages beflissen vor dem Schreibtisch gesessen und hatte seine Papiere bearbeitet, wenngleich er es sich nicht nehmen ließ, seine Kollegen hin und wieder mit einem unüblichen übermütigen Kichern aufzuschrecken.

Zum Büroschluß jedoch war sein ungestümer Lebensdrang nicht mehr zu bremsen; demonstrativ lässig klappte er den Ordner zu, den er gerade bearbeitete, ohne ihn in dem dazu vorgesehenen Aktenschrank zu verstauen, schwang salopp seinen Aktenkoffer unter den Arm und stürmte auf die Straße. Er fühlte sich so recht dazu aufgelegt, die ganze Welt zu umarmen, Pferde zu stehlen, Bäume auszureißen, alle fünfe gerade oder zumindest den Herrgott einen lieben Mann sein zu lassen. Nichts konnte ihn mehr halten, und er würde den Rest des Tages damit verbringen, genau den verborgenen Wünschen freien Lauf zu lassen, die er immer schon in seinen geheimsten Träumen heimlich geträumt, auszuführen jedoch nie den Mut besessen hatte. Den ganzen Tag über hatte er bereits damit verbracht, sich in den schillerndsten Farben auszumalen, was für Wünsche das wohl sein mochten, war jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen, so daß er zunächst beschloß, sich erst einmal in aller Ruhe im nahegelegenen Park auf eine Bank zu setzen, dort das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen und den Vorbeiziehenden, die sich beeilten, noch schnell die Besorgungen für die zuzubereitende Abendmahlzeit zu treffen, bevor sie deren Reste abspülen, sich zu Bett legen und furchtsam einem neuen Arbeitstag voller Alltagstrott und Existenzängste entgegensehen würden, stillschweigend seinen ganzen Spott zu schenken. Auf dem Weg pflückte er beiläufig einem Fliederstrauch eine Blüte ab, steckte sich diese leger ins oberste Mantelknopfloch und kaufte nun doch eine Schachtel Zigaretten, die er provokant neben sich auf die Parkbank legte, so daß er fast aussah wie jemand, der in einem 50'er-Jahre-Krimi auf eine Geldübergabe wartete, worüber er herzhaft lachen mußte.

Eine zutiefst eigenbrötlerische Eigenart der Deutschen ist es, ein wenig kontaktscheu zu sein und ungewollten Begegnungen mit fremden Menschen, die beide als äußerst unangenehm empfunden werden, tunlichst aus dem Weg zu gehen. Derlei mag bisweilen dazu führen, daß jemand, der auf der Suche nach einem Sitzplatz in einem Gasthaus ist, sich denjenigen der zur Verfügung stehenden Tische aussucht, der unbesetzt ist, selbst wenn an den anderen Tischen nur jeweils ein weiterer Gast sitzt. Er wird dann froh sein, gerade noch den letzten freien Sitzplatz ergattert zu haben, denn jeder weitere Sitzplatzsuchende, der nun als nächster das Gasthaus betritt, empfindet dieses als überfüllt, zumindest aber voll und wird es daher enttäuscht wieder verlassen. Ähnlich verhält es sich mit Parkbänken in einem Park, die, wenngleich sie jeweils mindestens drei, selbst großzügig proportionierten, Menschen Platz böten, dennoch als voll besetzt gelten, sobald eine, egal wie beschaffene, Person dort Platz genommen hat, was schade ist, da gerade der Aufenthalt auf Parkbänken eine ausgezeichnete Gelegenheit darstellen könnte, neue soziale Kontakte aufzunehmen.

Francke war gerade dabei, dergestalt sinnreich zu philosophieren und die eruierten Ergebnisse zu bedauern, da er einerseits kein Buch bei sich führte, in dem er zum alternativen Zeitvertreib hätte lesen können, was eine parkbankangemessene und durchaus -übliche Möglichkeit gewesen wäre, die nicht stattfindende Sozialkontaktaufnahme geschickt zu kaschieren, andererseits weder allgemein, noch insbesondere in der aufgewallten Gemütsverfassung, in der er sich gerade befand, gerne las, so daß er ein wenig fehl am Platze zu wirken glaubte, zumal es zu dieser späten Nachmittagsstunde im Park weitaus weniger vor Menschenmassen wimmelte, als Francke sich dies gewünscht hatte. Tatsächlich schien er bislang der einzige Parkbesucher zu sein, als plötzlich ein Herr auftauchte, der ganz ähnlich gekleidet war wie Francke selbst, und der offenbar Franckes Philosophie Lügen zu strafen gedachte, indem er sich, ungeachtet der Tatsache, daß auf den fünf vorhandenen Parkbänken lediglich eine Person, nämlich Francke, saß, zielstrebig auf eben diese bereits besetzte Bank zusteuerte und sich setzte, somit also direkt neben Francke zu sitzen kam.

Francke war begeistert: Da hatte sich nun tatsächlich ein Seelenverwandter gefunden, und dieser hatte Francke gefunden. Wenngleich der fremde Herr, der Franckes ausgelassene Stimmung offenbar so sehr teilte, daß er sogar eine ähnliche Blüte wie dieser im obersten Mantelknopfloch trug und seine Zigaretten neben sich auf die Parkbank legte, ohne sich eine anzuzünden, im Umgang mit Gleichgesinnten noch unerfahren und daher ein wenig befangen war, da er Francke kaum anzusehen wagte, sondern starr nach vorne blickte, konnte dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein.

Wenn der Herr Kontakt zu fühlenden Menschen, wie er selbst einer war, gesucht, Francke gefunden hatte, und nun zu scheu war, den frisch geknüpften Kontakt weiter zu intensivieren, so war nunmehr die Reihe an Francke, dem Herrn entgegenzukommen und die flüchtige Bekanntschaft zur wahren Freundschaft auszubauen. Als ersten Schritt rückte er seine Aktenmappe, die er bei der Platznahme auf der Parkbank zur Demonstration, daß die Arbeitszeit der Freizeit gewichen sei, weiter von sich gestellt hatte als üblich, sowie die in der Mitte der Bank liegenden Zigaretten näher an sich heran, da eine weit von sich gestellte Aktenmappe und eine auf die Mitte der Parkbank gelegte Schachtel Zigaretten leicht als Beanspruchung der gesamten Bank und als Mahnung, sich diesem Platz fernzuhalten, hätten interpretiert werden können, was Francke jedoch gänzlich fernlag. Die symbolische Räumung der nicht-besetzten Parkbankhälfte sollte zum Ausdruck bringen, daß diese von Francke nicht in Anspruch genommen wurde, also frei war, und kam einer Aufforderung an den fremden Herrn gleich, sich doch hinzusetzen. Da der Herr allerdings bereits Platz genommen hatte, wollte Francke die Geste als freundschaftliche Einladung verstanden wissen, doch ein wenig näher zu rücken, was der Herr allerdings deutlich mißzuverstehen schien, da er Francke nun doch eines Blickes, und zwar eines mißbilligenden, würdigte.

Das war Francke peinlich. Da hatte er ein Zeichen der Öffnung, des Entgegenkommens setzen wollen, und statt dessen hatte er genau die selbe Handlung vollführt, mit der weitaus gröbere Zeitgenossen als er selbst andeuten, daß sie sich von ihrem Gegenüber abzugrenzen suchen, und somit genau das Gegenteil dessen ausgedrückt, was er dem fremden Herrn eigentlich hatte sagen wollen. Daß dieser feinfühlende Mensch, der als Freund auf Francke zugekommen war und sich entgegen seinen Erwartungen auf dergestalt rüde Weise abgewiesen erscheinen mußte, auf diesen Schock enttäuscht und verbittert reagierte, war nur zu verständlich.

Zwar ärgerte sich Francke zunächst erheblich über seine eigene Ungeschicklichkeit, versuchte aber sogleich, dem Verlauf des Gesprächs eine glücklichere Wendung zu geben, indem er sein Mißgeschick geschickt zum Anlaß nahm, mit dem fremden Herrn ins Gespräch zu kommen, und nun mit Worten zu sagen, was er im Innersten fühlte, und was er so unbeholfen mit Gesten zu vermitteln gesucht hatte: daß die Welt von Grund auf schlecht sei, das Zeitalter verdorben - die Menschen seien kalt und nicht mehr zu echter Nächsten- , lediglich noch zu eigennütziger Selbstliebe fähig, und lebten in ständiger, wenngleich berechtigter Angst voreinander, was ein Leben in Eintracht, Harmonie und Frieden grundsätzlich vereitle, noch mehr Haß und Zwietracht säe, als ohnedies schon vorhanden seien, und sensiblen Menschen das Leben zur Hölle mache. In dergestalt beschaffenen Zeiten einen wahren, einen echten Freund zu finden, der es ehrlich mit einem meine, dem man sein Herz ausschütten, seine geheimsten Nöte offenbaren könne, und der andererseits seinerseits keinerlei Scheu empfinde, dem Freund, dem Bruder, ebenfalls Einlaß in die durch die Schlechtigkeit dieser Welt mehr und mehr zurückgedrängten, geheimen und verborgenen Winkel des Herzens und der Seele zu gewähren, und somit geteiltes Leid stets zum halben Leid, geteilte Freud stets zur doppelten Freud werden zu lassen, alle Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam zu meistern, und letztendlich gerade durch die Unbill der Welt und der Mitbürger zu aufrechten und ehrbaren Menschen heranzureifen und über den Sumpf der allzu irdischen Dinge zu echter menschlicher Größe hinauszuwachsen - einen solchen Freund heutzutage noch zu finden, das sei schon ein wahrer Schatz.

Der fremde Herr riskierte nun doch einen Blick, aus dem zu Franckes größtem Erstaunen weder Mißbilligung noch die gebührende Hochachtung, sondern ebenfalls lediglich allergrößtes Erstaunen sprach. Fast schien den Mann eine kleine Traurigkeit anzuwandeln, die er jedoch im Ansatz einer aufwallenden Träne rasch hinunterzuschlucken schien und sich abrupt wieder abwandte. Gerade als Francke tröstend den Arm um den Freund legen und diesen zur Preisgabe seiner Nöte, Ängste und Sorgen ermuntern wollte, die Francke selbst nur allzugut verstehen und nachvollziehen könne, griff der Herr eilig nach seinem Aktenkoffer und Franckes Zigaretten, erhob sich und eilte so zügig von dannen, daß Francke weder Zeit noch Worte fand, sich für eventuell entstandene Mißverständnisse oder Verletzungen zu entschuldigen oder einen Termin für ein nächstes Treffen im freundschaftlichen Kreise zu vereinbaren, und somit alleine und einsamer denn je auf seiner Parkbank zurückblieb und sich wunderte.

Nachdem Francke sich eine Zeit lang gewundert, und das Mißgeschick, das entweder ihm oder seinem neuen Freund im Anknüpfen neuer Freundschaften unterlaufen war, vergebens zu analysieren versucht hatte, hatte er auch keine rechte Lust mehr, das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen und den Vorbeiziehenden, die sich beeilten, noch schnell die Besorgungen für die zuzubereitende Abendmahlzeit zu machen, bevor sie deren Reste abspülen, sich zu Bett legen und furchtsam einem neuen Arbeitstag voller Alltagstrott und Existenzängste entgegensehen würden, stillschweigend seinen ganzen Spott zu schenken, zumal sich im Park keine weiteren Vorbeiziehenden zeigen wollten.

Also packte er die Zigaretten seines neuen Freundes ein, nahm seinen Aktenkoffer auf und begab sich, da ihm nichts besseres einfiel, nach Hause.

Was bisher weder das Computerzeitalter, noch die Genmanipulation, noch die Automatisierung sämtlicher Lebensbereiche zuwege gebracht haben, das erklärte Ziel der Schaffung des gläsernen oder zumindest austauschbaren Menschen nämlich, zu verwirklichen, ist in kleinen, aber nur desto sichereren Schritten der Aktenkofferindustrie gelungen: Der austauschbare Aktenkoffer.

Angesichts der Tatsache, daß immer mehr Menschen immer wichtigere Gegenstände in Aktenkoffern transportieren, hat deren Rolle im modernen Leben massiv an Bedeutung gewonnen. Ganze Lebenswerke werden in Aktenkoffern transportiert, Habilitationen, Testamente, Haushaltspläne und Plutonium, und da zuweilen ein Aktenkoffer dem nächsten ähnelt wie ein Ei dem anderen, kann es von der Austauschbarkeit der Aktenkoffer über die Austauschbarkeit der Inhalte zur Austauschbarkeit ihrer Träger und deren Identitäten nicht mehr weit sein.

Diesen schmerzlichen Schluß zog Francke, als er, in seiner Eineinhalb-Zimmer-Wohnung angekommen, sein Pausenbrot, das er in der Aufwallung seiner Gefühle zur Mittagspause verschmähend dort belassen hatte, wohin er es, wie jeden Morgen, auch diesen Morgen verpackt hatte, in seinem Aktenkoffer nämlich, selbigem wieder entnehmen wollte, damit es nicht über Nacht verderbe, und feststellen mußte, daß es sich bei seinem Aktenkoffer nicht um seinen Aktenkoffer handelte, sondern offenbar um den seines neuen Freundes. Von all den Dingen, die er für gewöhnlich dort aufbewahrte, war keines mehr vorhanden.

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