Südkurier, 1. August 1996:
Das Auge im Blickfeld
Die Nummer 17 des Wandler mit Schwerpunkt Sehen
In der bald zehnjährigen Geschichte des "Wandler. Zeitschrift für
Literatur" ist Heftnummer 17 das dritte Themenheft.
Rund ums "Sehen" geht es in diesem Heft. Zwei Autorinnen und elf Autoren
kommen zu Wort. Bei Ernst Peter Fischer erfahren wir, daß "auch heute
noch im Dunkel" bleibt, wie aus Licht Sehen wird. Zum "weißen Fleck"
der Wissenschaft gesellt sich der geschichtlich dunkle Fleck verdrängten
Wissens, des Nicht-Sehenwollens. Einen Teil dessen ruft der Konstanzer
Literaturwissenschaftler Hermann Kinder im Beitrag "Bodenlossehen" in
Erinnerung.
Der Leser hat via historischer Augenzeugen Anteil an den exzessiven Grausamkeiten
der tausendjährigen Mordgesellen, die von der Römerzeit bis heute
den Herrschern willfährig zu Diensten waren und noch immer sind. Das
Auge erleidet doppelt Folter: als Opfer selbst und in der Wahrnehmung des
gefolterten Anderen.
Was gibt die sogenannte Lyrik der Gegenwart her? Auszugsweise "starke
Sätze". Zum Beispiel "der Orgasmus der gußeisernen Patentdauerwelle"
inmitten einer bunten und zugleich morbide erlebten weil verblosen Konsumwelt.
Der 15-Zeilen Text, eine "Verdichtung" von Alexander "Ponti" Brückner,
endet mit "abgenutzte Adjektive flaggenüberzogener Särge". Mit
Sehen hat ein solcher Text vor allem im übertragenen Sinn zu tun:
Überschauen, Zusammenraffen, Auf-den-Punkt-bringen.
Das Heft mit nachgedruckten und eigenen Texte junger Autoren ist eine Kombination
aus Wissenschaft, Geschichte, Erzählung, Autobiographie und subjektiver
Befindlichkeit. Es lädt dazu ein, sich mit "Sehen" als Wahrnehmung und
als Wortfeld zu befassen. Andere Aspekte tauchen dagegen nicht auf, zum Beispiel,
wie ein Blinder die Welt "sieht" oder eine Auseinandersetzung mit dem Reizthema
"Auge des Gesetzes".
JOACHIM SCHWITZLER
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